Jura Konstantinowitsch Stylianoudis,
der griechische Kameramann,
der in Russland aufwuchs
und in Baden starb
von Tanja Funk
Nu also, ich werde beginnen meine Geschichte ganz von vorne. Mein Name - mein Name ist
Georg - das ist auf russisch Jura. Und dann kommt der Name des Vaters - Konstantinowitsch.
Das heisst, dass ich der Sohn von Konstantin bin. Der Familienname ist ein bisschen lang:
Stylianoudis. Mein Name ist griechisch, weil mein Vater Grieche war. Schon in der Schule hat
man mich verkürzt Stilly genannt. Ich arbeitete im Film auch später unter meinem - ich hab'
es genannt Künstlernamen: Georg Stilly. Und so ist es in verschiedenen offiziellen
Dokumenten und auch im Handelsregister München eingetragen.
Ich bin am 29. Februar 1904 in Odessa geboren. Mein Vater ist von Griechenland seinerzeit
nach Odessa am Schwarzen Meer gezogen, weil in Griechenland waren sehr wenig Chancen
für einen Chefbuchhalter, eine gute Stelle zu bekommen. Wir waren drei Brüder. Ich war der
mittlere, der ältere war zwei Jahre alter, der jüngere zwei Jahre jünger.
Als ich zirka sechs Jahre alt war, hat der Vater in der gleichen Bank eine neue
Stelle bekommen, das heisst, er wurde abkommandiert nach Sankt Petersburg
als Bankdirektor. Seine erste Handlung war, uns alle drei in die beste und
teuerste Schule zu stecken. Er hat ausgewählt die Deutsche Petri-Schule, die an
die Lutherische Kirche Petrus und Paulus angeschlossen war. Der Unterricht war
in Deutsch. In meinem späteren Leben hat sich sehr oft herausgestellt, dass die
Kenntnis der deutschen Sprache mir enorme Vorteile in der Arbeit gebracht hat.
Ich habe auch erlebt die Anfänge und die Gestaltung des sowjetrussischen Staates.
Als ich zirka vierzehn Jahre war, kam die Oktoberrevolution. Kurz nach der
Revolution haben die Bolschewiken die Safes der Bank öffnen lassen und haben
sie alle geplündert. Mein Vater als bourgeoiser Kapitalist blieb arbeitslos. So war
die Familie ohne eine Kopeke, und wir sassen auf dem trockenen. Daher hat ja
der Vater immer gepredigt: «Kinder, ihr sollt lernen, lernen und lernen. Das, was ihr
im Kopf habt, das können die Bolschewiken euch nicht wegnehmen.»
Der Vater wollte, dass wir Elektroingenieure wurden, weil zu der Zeit gab es in
Russland fast keine Elektrizität. Nur in der grossen Stadt wie Petersburg war
schon elektrisches Licht. Das war eine belgische Gesellschaft - die Russen selber
hatten nicht mal anständige Elektrostationen. Damals haben die Kinder ja noch auf
den Vater gehört. Wir folgten also dem Widen des Vaters und sind eingetreten,
beide, mein älterer Bruder Nikolaj und ich, in die Elektrotechnische Hochschule in
Sankt,... ah, nicht Sankt Petersburg, sondern es hiess schon Leningrad. Ich habe
dann zu Nikolaj gesagt: «Wir müssen uns jetzt überlegen, was wir tun können, um
zu lernen und gleichzeitig die Familie überhaupt über Wasser halten zu können.»
Wir beschlossen, Filmvorführer im Kino-Theater zu sein. Die Arbeit ging ab sechs
Uhr abends bis elf oder zwölf Uhr nachts, und der ganze Tag war frei und man konnte
lernen. Als wir da anfingen, mussten wir den Film noch mit der Hand drehen. Es gab
keine elektrischen Motoren. Wahrend meiner ganzen Studienzeit, fünfeinhalb Jahre,
habe ich im Kino als Vorführer gearbeitet.
Im Kino, wo ich arbeitete, waren zwei Platzanweiserinnen. Also eines Abends ...
komm' ich raus, und da kommt gerade eine der Platzanweiserinnen, übrigens die
nettere, auch raus und sagt: «Ah, das ist gut, dass du jetzt auch rauskommst. Nämlich,
es ist so vereist» - es war ein harter Winter, zirka minus zwanzig Grad Kalte - «und zu
zweit ist es viel leichter, über die vereisten Strassen zu laufen als allein.» Ich habe
gesagt: «Ich begleite dich sehr gerne nach Hause.» Vor ihrem Haus hat sie gesagt: «Es
ist so wahnsinnig kalt. Willst du nicht eine Tasse heissen Tee trinken?» Ich war auch
durch gefrostet und habe gesagt: «Ja, sehr gerne.» Wir sind also ins Haus gegangen,
und sie hat gesagt: «Ich mache gleich Tee.» Nach einiger Zeit ist sie wieder in die
Stube ge-kommen und hat das Tablett abgestellt. Ich habe sie angeschaut... und
wurde rot. Sie hatte nämlich einen Morgenrock an, der zugeschnürt war. Vorne war
aber eine Spalte. Und durch die Spalte hat man gesehen den splitternackten Körper.
Das war wohl das erste Mal, dass ich eine reife Frau, wenigstens einen Teil davon –
allerdings interessanten Teil, von der Frontseite - gesehen habe.
Weisst du, Deduschka, was ich dachte, als ich dieses Tonband das erste Mal abhörte?
Ich dachte: Typisch Deduschka, da stellt er sich vor, und bevor er etwas über seine
Filmarbeit sagt, erzählt er Frauengeschichten.
Du gestattest, dass ich dich kurz noch fertig vorstelle: Mein Grossvater ist Jura
Stylianoudis, ein Grieche, geboren 1904 in Odessa und aufgewachsen in
Russland. 39 Jahre seines Lebens arbeitete er für den Film, zuerst als
Kameramann und Schnittmeister, später auch als Produzent. 1940 kam er, der
erfahrene und gefragte Sowjet-Filmfachmann, der mit so berühmten Leuten wie
Sergej Eisenstein, llja Trauberg, Walter Ruttmann, Viktor Trivas, Anatol Litvak und
Max Ophiils zusammengearbeitet hatte, mit seiner Frau und seiner Tochter
(meiner Mutter) in die Schweiz. Die Schweiz war damals in filmtechnischer
Hinsicht, so seine Worte, noch «völlig unterentwickelt». Hier fotografierte er eine
Unzahl von Filmen, anfänglich Dokumentarfilme bei der Filmgesellschaft
«Praesens», später dann Spielfilme bei der «Gloria». Oft zeichnete er für den
Schnitt dieser Filme verantwortlich, und seine fundierte Erfahrung war auch bei
Fragen der Filmdramaturgie oder der Produktion willkommen. Auf deutsch nannte
er sich Georg Stilly, und unter diesem Namen ist er auch im Nachspann vieler
bekannter Schweizer Filme aufgeführt, bei denen er als russischer Kameramann
sein reiches Wissen einbrachte. Seine bekanntesten Arbeiten in der Schweiz
datieren aus den fünfziger Jahren und sind jedem Filmfreund ein Begriff
«Polizischt Wäckerli», «Bäckerei Zürrer» und «Oberstadtgass» (Regie: alle Kurt
Früh).
Sie hat sich neben mich gesetzt, ganz dicht, hat Tee eingegossen und hat gesagt: «Nu,
jetzt trinken wir.» Sie hat ihre Hand auf meine Schulter gelegt und hat ein bisschen am
Nacken in den Haaren gekrabbelt.
Dann hat sie gesagt: «Du, ein richtiger Mann hatte das nicht aushalten können.» Ich
hab' gesagt: «Was soll ich nicht aushalten können?» Sie hat ihre Tasse abgestellt und
die rechte Hand mir direkt auf den Hosenschlitz gelegt und hat angefangen, den
aufzuknöpfen. Damals waren ja noch keine Reissverschlüsse, sondern normale
Knopfe. Ich bin dagesessen wie ein dummes Schaf und war so... perplex, dass ich mich
gar nicht wehren oder irgendwas unternehmen konnte. Ich hab' sie einfach werken
gelassen. Sie hat den Kameraden rausgeholt, der war schon in voller Form, Starke
und Grosse, und...
Der Akt war sehr kurz, weil ich war schon so aufgeregt, dass ich nicht viel machen
konnte. Mir hat es überhaupt keinen Spass gemacht. Ich habe mich angezogen, habe
den Tee nicht mal zu Ende getrunken, sondern bin schnell, schnell nach Hause
gelaufen.
Januar 1993: Ich merke, ich werde etwas nervös. Warum bloss? Weil ich, deine
Enkelin, dein erstes, lapsiges Liebesabenteuer mitkriege? Weil mir deine
Schilderung so unverhältnismässig lang (ich hab 'ja mindestens die Hälfte gekürzt)
und ziemlich kitschig vorkommt? Weil ich dich vor mir sehe, alt und todkrank, und
weiss, diese saftstrotzenden Zeiten, die dir so wichtig waren, sind unwiederbringlich
vorbei? Den ganzen Tag liegst du im Regionalen Krankenheim Baden im Bett,
deine Beine sind mit brandigen Wundlochern übersät, und in dem elend engen
Zimmer hängt unentwegt Verwesungsgestank.
Als ich dich gestern besucht habe, bist du nur ganz kurz aufgewacht. «Mir geht es
sehr gut», hast du auf meine Frage geantwortet, das Wörtchen «sehr» hast du extra
betont.
Und dann bist du gleich wieder eingeschlafen. Deine Hände waren eiskalt. So
dämmerst du deinem Tod entgegen.
Es kommt mir dieses Bild in den Sinn, wie du an unserem sonntäglichen Esstisch
sitzt und, während die Familie rundum plaudert, eingenickt leise schnarchst. Hat
man dich dann angesprochen, nahmst du den Gesprächsfaden jeweils ohne das
geringste Zögern auf, als hättest du die ganze Zeit alles mitbekommen. Auch in
früheren Jahren, als du noch als Kameramann gearbeitet hast, sollst du öfter unter
deinem schwarzen Tuch hinter der Kamera gedöst haben. Auf das Kommando
«Kamera ab!» warst du aber sofort voll da.
Ich bin dann für eine Weile der Platzanweiserin aus dem Weg gegangen. Doch zirka
nach zwei Wochen komm' ich raus, und da steht sie und wartet. Sie kommt auf mich
zu und sagt: «Sag mal bitte, warum meidest du mich eigentlich? Hat es dir nicht
gefallen?» Ich habe gesagt: «Ja, gefallen hat es schon, aber ich habe viel zu tun und...»
Und dann hat das alte Lied begonnen: «Willst du mich begleiten? Willst du eine
Tasse heissen Tee?» Wir haben nur paar Schlucke getrunken, und dann hat die
gleiche Prozedur angefangen. Sie hat wiederum die Initiative übernommen und
bald sind wir schon gewesen bei dem besten Liebesakt. Dieses Mal ist es nicht so
schnell gegangen. Ich habe mich zurückgehalten, damit man ein bisschen mehr
Freude hat. Am nächsten Tag haben wir uns verabredet, und dann kam das gleiche
Spiel...
Und soweit rund sofort...
Nach dem Abschluss mit Diplom an der Elektrotechnischen Hochschule habe ich
zusätzlich noch die Architekturausbildung an der Akademie der Kunst in Sankt
Petersburg gemacht. Nach zwei Jahren war ich mit der Akademie fertig, denn die
technischen Fächer von der Elektrotechnischen Hochschule wurden mir
angerechnet.
Ich habe meine Diplomarbeit gemacht und gewartet aufs Architekturdiplom. Da kam die
Bombe: Ich wurde ins Parteikommitee eingeladen, und die Genossen sagten:
«Towaritsch, du hast jetzt zwei Hochschulen auf Staatskosten absolviert. Du hast einen
ausländischen Pass, und früher oder später wirst du doch abhauen. Also, dann
bekommt der Staat nichts für die Lehre, die du bei uns gratis gemacht hast. In die
Partei wolltest du niemals eintreten, das ist deine Sache. Aber jetzt musst du unbedingt
Sowjetrusse werden und in Russland bleiben.»
Der Vater hat uns auch gelehrt: Niemals sofort eine Antwort geben, nicht ja, nicht nein
sagen, sondern erst mal die Angelegenheit überschlafen. Und dann, mit freiem Kopf,
am nächsten Tag, sollte man erst handeln. Das hab' ich auch getan und am nächsten
Tag gesagt: «Ich will eigentlich bei meinem Pass bleiben. So bin ich geboren, mein
Vater war Grieche, mein Grossvater war Grieche, und ich sehe keinen Grund, dies zu
ändern.» Ich wollte auch aus dem Grund nicht, weil ich dann sofort zwei Jahre
Militärdienst hätte machen müssen, noch dazu in Sibirien. Da kam der Schlag:
«Dann kriegst du kein Diplom!» Dabei wussten die ganz genau, dass man ohne
Papiere in Russland überhaupt nicht arbeiten konnte.
Man konnte nicht mal Strassenfeger werden. Man musste ein Papier haben zur
Bestätigung, dass man Strassenfeger ist.
Die haben gedacht, dass ich in zwei, drei Wochen auf allen Vieren zurückkrieche und
werde um den sowjetrussischen Pass betteln mit der Begründung: Ich möchte arbeiten.
Aber die haben sich verrechnet. Ich habe nämlich erstens mal das Diplom als
Elektroingenieur gehabt, also konnte ich solch eine Stelle sofort annehmen. Es war
Mangel an Ingenieuren. Und zweitens: Ich habe in den fünfeinhalb Jahren, die ich als
Vorführer in der Kabine gesessen habe, den Film so lieb gewonnen, dass es mich
eigentlich schon damals an allen Fasern zum Film zog.
Ich bin also gegangen am nächsten Tag ins Filmstudio (Sovkino), das knapp ein Jahr
zuvor erst gegründet worden war. Da fehlten Leute, das wusste ich. Ich war sofort
engagiert als Kameraassistent für die «Wochenschau». Dann hat sich rausgestellt, dass
von den dreihundert Mitarbeitern der Filmfabrik - also inklusive Direktor und dem
letzten Kulissenschieber - kein einziger die deutsche Sprache beherrschte, konnte
weder lesen oder sprechen deutsch. Dabei musste man das ganze Filmmaterial, also
nicht nur Negativ und Positiv, sondern auch Chemikalien, Entwicklungsmaschinen,
Apparaturen, Scheinwerfer, Lampen, Kohlen, einfach alles, aus dem Ausland,
beziehungsweise Deutschland, beziehen. In Russland gab es überhaupt nichts. Wir
haben es umgerechnet damals: Ein Meter Film kostete wahnsinniges Geld, gleich viel
wie ein Kilo Weizen. - Also, ich wurde sofort in die Einkaufskommission delegiert, und
habe alle Bestellungen für die ganze Filmfabrik in Berlin getätigt, und habe da
telefonisch und brieflich den Chef der Handelskammer Abteilung Film kennengelernt.
Das war Alexander Lagorio. Später hab' ich mit ihm in Berlin zusammengearbeitet.
Vier Monate nach meinem Eintreten in die Sovkino war ich schon zum Chef-
Kameramann ernannt und hatte siebzehn Leute unter mir. Ich musste die
disponieren, in ganz Russland rumschicken, wo was Interessantes für die
Wochenschau passierte. Und ich musste die Wochenschau selber schneiden, selber
montieren, selber konstruieren, selber die Titel machen, denn das waren ja Stummfilme.
Heute gibt's für diese Arbeit Redakteure, Monteure, Regisseure und so weiter, damals
war die ganze Arbeit in einem einzigen Paar Hände. Wir waren sehr aktuell: die
Aufnahmen vom Mittag konnte man schon in der Abendvorführung zeigen.
Ich war in der «Wochenschau» zwei Jahre und da hab' ich wirklich sehr, sehr viel
gelernt. Hauptsächlich, aber nicht nur, waren das Aufnahmen im Freien, aber auch
grosse Szenen mussten ausgeleuchtet werden. Ich habe alle kommunistischen
Parteitage gedreht. Ja, ich habe alle seinerzeit wichtigen Bonzen gekannt. Ich war
sehr zufrieden.
Nach zwei Jahren Arbeit in der «Wochenschau» hat mir ein alter, zaristischer
Regisseur, Herr Iwanowski, angeboten, einen grossen Spielfilm zu machen. Das war das
grösste Projekt in dieser Zeit, ein Film mit vierzig Dekorationen. Der Film hiess
«Lomanossow». Lomanossow war ein sehr, sehr bekannter russischer Wissenschaftler.
Die Universität in Moskau trägt heute noch seinen Namen. Ich habe die Arbeit
akzeptiert. Aber da kamen die siebzehn Kameraleute, meine Arbeitskollegen, auf mich
los: «Was willst du mit dem alten Kacker?» Ich habe gesagt: «Ich will lernen, im Studio
Dekorationen aufzunehmen mit Licht. Das ist eine grosse Chance.
Ihr könnt doch auch nur Aussenaufnahmen machen, von Licht und Dekorationen
habt ihr doch keine Ahnung!»
Ich habe also dann den Film gemacht, und ich hatte vollkommen recht. Die ersten
zwei Dekorationen hab' ich nämlich hundertprozentig versaut. Der Hintergrund war
vorne, vorne hat man nichts gesehen, es war dunkel. Aber keiner kontrollierte die
Dreharbeiten, also hat der Regisseur einfach gesagt: «Nu ja, das ist nicht gelungen, wir
drehen das Ganze noch einmal.» Das zweite Mai war alles in bester Ordnung. Der
ganze Film war zumindest sehr anständig fotografiert. In Russland hatte
selbstverständlich ein Film mit Namen «Lomonossow» sehr grossen Erfolg.
Nach diesem Film hab' ich dann mit einem jungen Regisseur, mit Ilja Trauberg, ein
Lustspiel gedreht. Der Film hat geheissen: «Der verzauberte Prinz». Da waren sehr viel
Truckagen (Truquage = franz.: Schwindel). Ein Mädchen hat geträumt von einem
Prinzen auf einem Bild, das bei ihr - ein riesengrosses Bild - an der Wand hängt. Und
in ihren Träumen ist er lebendig geworden, ist aus dem Rahmen rausgestiegen, und
dann hat er mit ihr verschiedenste Abenteuer gemacht, hauptsächlich
Liebesabenteuer, inklusive Schmusen.
Damals gab es selbstverständlich noch keine Truckage-Apparate, wo man nämlich
diese Aufnahmen separat machen und dann durch diese Trucka-Maschine zu einer
einzigen Aufnahme verbinden kann. Man musste also alles in der Filmkamera drin
machen. Ich habe lange probieren müssen, ausrechnen, Zeichen machen und so
weiter. Aber dieser Trick, dass der Prinz lebendig wird und raussteigt aus dem Bild, ist
mir hundertprozentig gelungen.
Nach diesem Film habe ich sogar eine Prämie von hundert Rubel für die gute
Fotografie bekommen. Das waren damals ungefähr vierhundert Deutsche Mark. Ich
habe gesagt: «Hundert Rubel brauche ich nicht, aber ich möchte die Wechsel für
vierhundert Mark und dann fahre ich nach Berlin und werde mich ein bisschen im
deutschen Film umsehen.» Das hat man mir bewilligt, ich bin nach Berlin. Ich habe dort
fast nichts gegessen, sondern das Geld aufgespart für Kinobesuche, manchmal sogar
zweimal am Tag, technische Literatur gekauft, Filmjournale abonniert und so weiter. Ich
habe Filmstudios besucht, Filmlabors besucht, überall geschnüffelt, wo ich nur
konnte.
An und für sich lebt mein Grossvater seit über dreissig Jahren mit seiner
Lebensgefährtin Herta B. in München, wo er aber nie eine
Niederlassungsbewilligung erhielt. Deshalb ist er offiziell in Ennetbaden (Wohnsitz
meiner Mutter) niedergelassener Ausländer und muss alle drei Monate die Grenze
passieren. Und auch für Arztbesuche und Spitalaufenthalte kommt er immer in die
Schweiz. In den letzten Jahren war er oft zu längeren Spitalaufenthalten in Zürich
und Baden gezwungen.
Schon in meiner Jugend haben mich die Erzählungen von Deduschka, was auf
russisch Grossvater bedeutet, fasziniert. Er war viel unterwegs, seine Filmarbeiten
brachten ihn in die verschiedensten Länder. Nur alle paar Monate liess er sich bei
uns blicken. Manchmal brachte er glamouröse Kostüme von irgendeinem Film für
meine Mutter und mich mit, wenn er uns besuchen kam. Babuschka, meine
Grossmutter, sprach von ihm nur selten, und ihre leidvollen Seufzer verstand ich
damals noch nicht.
Ein Boheme sei er gewesen, kann man im Buch «Geschichte des Schweizer Films»
von Herve Dumont nachlesen. Dass er ihr durch seinen Lebens-wandel das Herz
gebrochen hat, wurde mir später klar. Neugierig machten mich auch Andeutungen
meiner Eltern, die ich als Jugendliche mitkriegte, früher habe er, ein Meister seines
Fachs, grossartige Filme fotografiert, später jedoch nur noch Schundproduziert.
Gesehen habe ich bis heute keinen dieser Streifen, die im Fernsehen zu später
Stunde noch heute ausgestrahlt werden und im Programmheft mit «Erotik-Film»
bezeichnet sind. Mein Grossvater selber hat in keinem seiner Gespräche mit mir
auch nur andeutungsweise zu verstehen gegeben, er halte diese Filme für
minderwertig. Im Gegenteil: Seine Arbeit stellte er grundsätzlich nie in Frage,
sondern freute sich immer darüber, dass ihm so vieles gelungen war und er damit
grossen Erfolg hatte.
Im Spätsommer 1992 ging es Deduschka gesundheitlich schon ziemlich schlecht –
1981 hatte man ihm wegen eines Melanoms (Hautkrebs) einen halben Fuss
amputiert-, und er kam für längere Zeit ins Kantonsspital Baden. Seine Fersen
warm ganz offen, und er konnte nur noch mit dem Stock ein paar mühsame
Schritte gehen. Die Wunden heilten so schlecht, weil er schon lange an Diabetes
litt.
In der Zeit zwischen August und Ende Oktober führten wir mehrere Gespräche, die ich
auf Tonband aufnahm. Manchmal bekam ich eine Geschichte fast wortwörtlich beim
nächsten Besuch noch einmal zu hören.
Manchmal verstand er auch schlicht meine Fragen nicht, weil sein Gehör immer
mehr nachliess. Und manchmal war er sehr müde und unkonzentriert –
wahrscheinlich aufgrund der starken Medikamente.
Die Gespräche habe ich in diesem ganz charakteristischen Dialekt, den er sprach,
belassen. Er sprach (mit einer eigenwilligen Intonation undSatzdramaturgie) gut
deutsch. Die «Fehler» fand ich immer sehr reizvoll: «Ich habe es erlebt die
russische Revolution», sagte er beispielsweise. Oder er verwendete durchs Band
«weil» an Stelle von «denn».
Als ich in die Elektrotechnische Hochschule eintreten wollte, gab's eine Schwierigkeit.
Ich war nämlich noch zu Jung. Also, ohne lange zu überlegen, habe ich in meinen
Ausweispapieren mir vier Jahre dazugegeben, damit ich wieder auf ein Schaltjahr
komme, weil ich ja am Schalttag geboren wurde. Das hab' ich selber gemacht, ziemlich
primitiv, aber das hat mich damals weniger interessiert. Es gab ein Eintrittsexamen, das
war wirklich sehr schwer, aber ich habe es bestanden.
Du bist also 1904 geboren und hast in deinen Ausweisen aus 1904 die Zahl 1900 gemacht?
Jawohl, genau, ha, ha ... Nach dem Studium wurde ich in der Filmfabrik auf der
Stelle engagiert. Nach kurzer Zeit sagte der Direktor der Lenfilm von Sovkino zu mir:
«Genosse, wir haben aus deinen Unterlagen ersehen, dass du Deutsch nicht nur
sprichst, sondern auch lesen und schreiben kannst.» - Wir haben ja deutsch
gesprochen zu Hause, weil Papa hatte damals eine Gouvernante engagiert, Isa. Zwei
Jahre nach dem Tod der Mutter haben Papa und Isa geheiratet. Und da hab' ich zwei
Halbschwestern, die eine ist Sina, die andere ist Larissa.
War Isa denn eine Deutsche?
Nein, Isa war eine Estin aus Riga. Das gehörte damals zu Russiand. Jetzt machen die
sich selbständig.
Erzähl mir mehr von deiner Filmerei. Bei welchem Film hast du mit dem
Eisenstein zusammengearbeitet?
Ich bin von Sovkino freigestellt worden für seinen Film, seinen grössten, der hiess
«0ktober» («0ktjabr», 1927). Eduard Tisse leitete eine Gruppe, Grigori Alexandrow hatte
auch eine Gruppe, und ich leitete mit Eisenstein eine Gruppe. Ich habe da beispielsweise
die Aufnahmen vom Sturm auf den Winterpalast gemacht. Im Studio haben Eisenstein
und ich dann das Material ausgesucht, das gute, und da hab' ich mit ihm am
Schneidetisch gesessen, und wir haben das zusammengeschnitten. Er hat ja eine
goldene Wahrheit gesagt. Er hat gesagt, dass die Montage ist die Hälfte von der Regie. Mit
der Montage kann man einen Film töten, oder man kann ihn sich sehr lebendig und
interessant entwickeln lassen. Eisenstein war damals schon eine Koriphäe, das war nach
«Panzerkreuzer Potemkin».
Erinnerst du dich, welches dein erster grosser Spielfilm war?
Ja, ich erinnere mich. Vorigesjahr, oder vorvoriges, kam ein sowjetrussischer
Regisseur nach Düsseldorf, der hiess Leonid Trauberg. Ich habe seinerzeit mit seinem
jüngeren Bruder, Ilja Trauberg, gemacht den Film, der Welterfolg hatte und liegt in
allen Cine'matheken: «Der blaue Express». Leonid Trauberg hat mir noch ein Plakat
dieses Filmes mitgebracht. Da heisst es: «Kamera: Georgi Stylianoudi» - da fehlt
dass.
Im «Filmführer» von Dieter Krusche heisst es zum Film «Der blaue Express –
Goluboi express» (UdSSR, 1929): "Ein kraftvoller Film von llja Trauberg.
Bestimmte Szenen (sind) möglicherweise von Eisenstein beeinflusst, dessen
Regieassistmt Trauberg bei dem Film «0ktjabr» war».
Mit Ilja Trauberg hab' ich vorher schon den Film «Bezaubernder Prinz» gemacht. Für
den hab' ich eine Auszeichnung erhalten. Das war nämlich so: Bei «Bezaubernder
Prinz», da hab' ich eine Trick-Aufnahme gemacht, ohne Trucka-Maschine. Aus einem
Plakat steigt ein lebendiger Prinz. Das war damals eine Sensation.
Ja, davon hast du mir schon erzählt. Und welches war dein erster Film im Ausland?
Meinen ersten deutschen Film hab' ich gedreht in Berlin, und der hiess, Moment, was
mit Blut. Na, das kommt mir schon in den Sinn ...
1928/29 kam er nach Berlin, arbeitete in Berlin und später in Paris mit Ruttmann,
Trivas, Litvak, Pabst, Ophtils und Kirsanov. 1931 filmte er für die Praesens-Film
Zürich-Berlin «Feind im Blut» (Regie: Walter Ruttmann), einen Aufklärungsfilm
über Geschlechtskrankheiten und zugleich den ersten Sprechfilm dieser Schweizer
Produktionsgesellschaft. Das war sein erster «Schweizer Kontakt».
Warum bist du denn von Russland weg?
Da muss ich zurückgreifen. 1930 habe ich mit dem Regisseur Erofeef einen
Dokumentarfilm über Deutschland für Sovkino gedreht. Man hatte mich ausgewählt,
weil ich grosse Erfahrung von den « Wochenschau»-Aufnahmen her hatte, und ausser
mir hat ja kein Mensch deutsch gesprochen. Wir sind mit einem gekauften Auto über
6000 Kilometer durch ganz Deutschland gefahren. Es wurde ein interessanter Film,
weil damals bekam man keine Informationen über Deutschland oder das Ausland. In
Russland fand der Film «Zum glücklichen Hafen» sehr grosse Beachtung. Ich sparte
damals 1000 DM und liess das Geld auf einer Bank in Berlin. Und mit diesem Geld
habe ich später die Flitterwochen mit Vera (seine Frau, Vera Stylianoudis-Bukina)
finanziert. Das Geld in einem Monat loszuwerden war sehr schwer. Heute wären das
ungefähr 30 000 DM.
Knapp eine Woche vor meiner Rückreise mit Vera in die UdSSR rief mich Alexander
Lagorio an und sagte, ein Schweizer Verleiher, Herr Wechsler, wolle einen Film mit
Ruttmann machen. Herr Wechsler habe «Der blaue Express» gesehen und finde dies
die schönste Fotografie, die er je gesehen habe. Lagorio sagte zu Wechsler: «Sie
haben Glück, der Kameramann vom «Blauen Express» ist zufällig gerade in Berlin».
Am nächsten Tag haben Lazar Wechsler und ich miteinander gesprochen und uns
geeinigt. Ich habe sofort in Leningrad um einen einjährigen Urlaub gebeten, zwecks
Erlernung des Tonfilms, und das hat man mir bewilligt. Wir haben dann diesen Film
(«Feind im Blut») gemacht.
Damals gab es in Berlin nur fünf Tontische und vier Cutter. An dem fünften Tisch hat
Ruttmann dann seinen Film «Berlin - Sinfonie einer Grossstadt» geschnitten. Rutt-
mann war ein ausgezeichneter Cutter. Dann begann er aber zu trinken. Eine Flasche in
ein paar Stunden. Resultat: Eines Tages fiel er mit Alkoholvergiftung unter den Tisch.
Der Produzent war völlig verzweifelt, weil es gab keinen freien Cutter in ganz Berlin. Ich
hab mich darauf anerboten, den Film zu Ende zu schneiden. Die Kleberin Pukalka hat
grosse Augen gemacht, weil ich den Ton nur einmal durchgelassen habe und dann nur
nach Zeichen, ohne noch einmal zu hören, geschnitten habe.
Jetzt muss ich erzählen, woher ich das konnte: Einmal, ungefähr 1927, kam ein
kleiner Mann, Professor Schorin, ins Studio der Sovkino und hat um einen
Kameramann gebeten, der einen geheimen Filmauftrag ohne Drehbuch durchführen
kann. Die Wahl der Direktion fiel auf mich. Wir fuhren dann zum Fluss Neva in
Begleitung mehrerer schwarzer Limousinen vom GPU, das war der Geheimdienst.
Professor Schorin führte seine Erfindung vor: Es war ein ferngesteuertes Boot. Auf
Knopfdruck legte das Boot ab, blieb stehen, hievte eine Fahne, schoss aus einer
Kanone und so weiter.
Ich habe das gedreht, und als der Professor anlässlich des Filmschnittes ins Studio
kam, habe ich gesagt: «Das wäre doch für Sie ein leichtes, ein Tonaufzeichnungsgerät
zu konstruieren.» Er antwortet mit einem Lächeln: «Klar, das ist einfach, aber ich habe
keine freien Leute.» Ich sagte, dass mein Bruder Elektroingenieur ist, zwar auf
Starkstrom, aber das Umlernen auf Schwachstrom sei in höchstens zwei Wochen zu
schaffen. Am nächsten Tag war mein Bruder bei dem Professor, ich habe in der
Filmfabrik einen Filmapparat erbettelt, und der Professor hat tatsachlich in zwei Tagen
alle Plane, Schemen der Schaltung und so fort auf den Tisch gelegt. Etwa einen Monat
später war die Apparatur fertig, dazu war auch ein Tonabnehmer für den
Vorführungsapparat gebaut. Wir gingen in den Lunapark und filmten das Orchester.
Es spielte den «Persischen Markt»: tatata taaa, tatata taaa...
Am nächsten Tag war alles entwickelt und kopiert. Bild und Ton waren zusammen
auf einem Negativ, also war zwangsläufig alles synchron. Das Studio war bumsvoll.
Schon beim ersten Bild brach ohrenbetäubender Applaus aus. Nach der Vorführung
hielt ich eine kleine Ansprache und nannte Schorin den «Vater des sowjetischen
Tonfilms». Aber ich war es ja, der ihn mit der Nase darauf gestossen hatte...
Von falscher Bescheidenheit hast du, seit ich mich erinnern kann, nie etwas
gehalten. Auf viele deiner Taten und Erfolge warst du stolz, und du hast keinen
Grund gesehen, sie zu verschweigen. Wieviel davon Übertreibung war, kann ich
nicht beurteilen. Überheblich gewirkt hast du auf mich trotzdem nie.
Also zurück zu dem Film «Berlin - Sinfonie einer Grossstadt» von Ruttmann. Ich
arbeitete sechs Wochen an der Synchronisation. Der Komponist machte mir
Komplimente, dass alle Musikabschnitte so gut in der Länge zum Bild passten. Das
habe ich bei Eisenstein gelernt. Der schnitt seine Stummfilme mit Metronom, um den
Rhythmus zu behalten. Und ich machte das auch so. Mein nächster Film in Berlin
war dann «Niemandsland» (1931, Regie: Victor Trivas). Ich war Kameramann und
habe den Film auch geschnitten.
Von Berlin aus bin ich sehr viel gereist und habe viel gedreht; in Italien, Paris, der
Türkei und Ägypten. Nach dem Film «Insel der Dämonen» (Bali-Film von Dr.
Dahlsheim) rief mich Trivas von Paris an und fragte, ob ich nach Paris käme für seinen
Film «Dans les rues» mit Jean-Pierre Aumont in der Hauptrolle. Ich erwiderte: «In
Frankreich kann man nicht ohne CGT (Gewerkschaft) arbeiten.» Aber Trivas machte
ein Gesetz ausfindig, das Regisseuren einen Assistenten erlaubte, egal welcher
Nationalität, ohne CGT. Ich akzeptierte unter der Bedingung, dass ich den Film auch
schneiden kann. Bis Ende des Films konnte ich schon französisch sprechen.
Vera ist in Berlin geblieben, und ich habe jeden zweiten, dritten Tag telefoniert. Einmal,
das war anfangs 33, hat sie mir gesagt: «Es geht hier schlecht.» Sie war ins Restaurant
gegangen und sie hat ja kein deutsch gesprochen. Die Leute hatten gesungen, und sie
war nicht aufgestanden und wurde angepöbelt. Das war das Horst-Wessel-Lied.
Ich habe gesagt: «Du, komm sofort hierher», und sie hat gepackt und ist nach Paris
gekommen.
Aber ohne Arbeitsbewilligung war es unmöglich, in den Pariser Studios Arbeit zu
bekommen. In Kopenhagen konnte er dann den Film «Paulos Brautfahrt» (1934)
schneiden. Darauf bewarb er sich in Paris erfolgreich für Aufnahmen, die im
Ausland gedreht wurden. Für Anatol Litvak konnte er die Aussenaufnahmen für
«Meierling» (1936) machen. Bei «Les freres corses» von Robert Siodmak (1938)
konnte er die Kamera ganz übernehmen, weil auf Korsika gedreht wurde. Es
folgten «Werther» von Max Ophiils (1938), «Chemin de Rio» mit Jules Berry, dann
konnte er in Istanbul für Pabst Szenen zu «Esclave blanche» (1939) filmen. Sein
letzter Film in Paris war «Quartier sans soleil» mit dem Regisseur Kirsanov.
In Paris hat mir einmal ein Profi gesagt... das war der Wie-hiess-er-doch, der Mann
von Jean Harlow, dieser Blondine, er war sicher zehn Jahre älter als ich... und er hat
gesagt: «Junger Mann, bis Sie Leute fotografieren können - und besonders Frauen –
vergehen zehn Jahre.» Und er hatte recht. Um die «Geographie» von jedem Gesicht
auszuleuchten, muss man nämlich spezielle Tricks haben. Und die hab' ich gelernt.
Zum Beispiel haben wir direkt vorne an die Kamera eine kleine 500-Watt-Lampe
angebracht. Dieses Licht hat einen hellen Punkt in die Augen gesetzt, und die Augen
wurden dadurch sofort lebendig.
Bitte erzähl mir doch noch, wie du die Babuschka (meine Grossmutter, seine
Frau Vera) kennengelernt hast.
Das war so. Wir haben einen Zirkusfilm gedreht, und da sass in der obersten
Zuschauerreihe eine junge Frau mit dicken, langen Zöpfen, und die ist plötzlich
aufgesprungen. Ich hab' zum Kameraassistenten gesagt: «Was ist das für eine Zicke,
die da rumspringt?» Und mein Assistent hat gesagt: «Du musst nicht so abschätzig
reden. Das sind Studenten von der Kinotechnischen Hochschule, und die machen ihre
Praxis im Filmstudio. Aber mach dir keine Hoffnungen bei der, das ist die grosse
Uneroberte von Leningrad." Ich habe gesagt: «Nun, das wird man sehen.»
Einmal hab' ich sie nach Hause begleitet, und dann kam sie nicht mehr ins Studio.
Sie ist nämlich, weil da Eis auf dem Hinterhof lag, ausgerutscht und hat sich den
Knöchel ausgerenkt. Ich habe sie besucht und gesagt: «Siehst du, hätte ich dich bis
an die Haustür begleiten dürfen, wäre das nicht passiert.» Dann musste ich für einen
Monat nach Krim, um einen Film zu drehen, und während dieser Zeit haben sich zwei
Kameraleute an sie herangemacht. Und selbstverständlich hab' ich gezittert, die
Burschen waren ja sehr gutaussehend, aus angesehenen Familien und in gleicher
Position wie ich. Später hat sich rausgestellt, dass sie ihr wahnsinnig den Hof gemacht
haben, aber erfolglos. Obwohl wir noch nicht miteinander geschlafen hatten, war
sie mir treu. Du siehst, obwohl ich viele Mädchen hatte, war ich doch ein sittlicher
Knabe.
Deduschka, welch ein Frauenbild, da geht's ja nur um die «Beute»! Eines ist ganz
sicher: Mein Grossvater war ein Draufgänger, aber einer mit viel Charme, ein Don
Juan der galanten Schule. Das Abenteuer Frau lockte ihn ganz offensichtlich
immer wieder. Ich selber realisierte das allerdings erst spät. Aber ich erinnere mich
gut an die kummerschweren Seufzer meiner Babuschka und, als ich ins
Pubertätsalter kam, ihre sorgenvollen Warnungen vor Schürzenjägern. Dass sie
damit auf meinen Grossvater Bezug nahm, war mir damals nicht klar.
Na gut, also, so verging der Monat in vollem Zittern, aber schlussendlich hab' ich
doch erreicht, dass ich mit ihr geschlafen habe.
Bevor ihr geheiratet habt?
Ja, ja. Aber sehr massig. Nach dem ersten Mal wollte sie mich eine ganze Woche nicht
sehen, weil ich mir das erlaubt hatte und sie war auch ärgerlich, dass sie selber es
zugelassen hatte. Damals waren ganz andere Sitten als heute.
Dann hab' ich ihr geschrieben, dass ich heiraten will, wenn sie will. Aber ich will richtig
heiraten, «richtig» hab' ich unterstrichen. Das heisst, ich will kirchlich heiraten. Und
das hat ihre Mutter in die Knie gezwungen, dass ich, mit kommunistischer Arbeit.
- ich war zwar nicht Kommunist, aber da waren viele Kommunisten in der Filmfabrik
-kirchlich heiraten will. Bei den Kommunisten war die Kirche verpönt.
Wir haben geheiratet. Und sie ist zu uns gezogen. Wir hatten ja noch unsere alte
Sechszimmerwohnung, da wohnte der Vater mit Isa und beide Brüder. Und da hatte er
offiziell ein Zimmer.
Wer hatte ein Zimmer?
Mein Freund. Jede Person musste ja ein Zimmer nachweisen können, man durfte
auch nicht mehr als ein Zimmer haben, aber eines musste man haben. Wenn wir unser
Zimmer nicht selber vermietet hätten, dann wäre es vom Wohnungsamt einfach
abgegeben worden an irgend jemanden. Also, dann haben wir mit dem Freund den
Tausch gemacht und Vera ist zu uns gezogen. Da hatte sie offiziell ein Zimmer, und
ich hatte offiziell ein Zimmer. Eines war unser Schlafzimmer, und eines war das
Arbeitszimmer.
Aber jetzt wieder zurück nach Paris. In Paris ist Svetic (seine Tochter) geboren, das
war 1934. Ich habe dann - kann ruhig sagen, mit meinem Scharfsinn - kalkuliert, dass
die Deutschen nach Paris kommen. Zwei Monate nach Kriegsanfang sind wir nach Rom
gegangen. Wir mussten die Wohnung aufgeben, und ich hab' meine Möbel der
Concierge in Paris geschenkt. Wir haben nur mitgenommen folgende Sachen: das
Kinderbett und grüne Kaffeebohnen. Aber ich habe mich verrechnet und nicht
gedacht, dass der Hitler den Mussolini um den Finger wickelt.
In Rom fühlte ich mich schon, durch verschiedene frühere Produktionen, wie zu
Hause. Wir hatten eine Zweizimmerwohnung in der Via Veneto. Ich habe dann gerade
gedreht in einem altem Theater in Livorno, das war ein Kostümfilm (vermutlich «Giu
il separio» von Matarazzo).
Einmal, abends, bekam ich ein Telefon während der Arbeitszeit: «Hier Doktor Stefan
Markus. Ich bin in Zürich. Wollen Sie kommen, hierher nach Zürich, und einen Film
drehen?» Mit Doktor Markus habe ich schon in Paris verschiedene Filme gemacht.
Aber ich weiss bis heute nicht, wie der mich in Rom gefunden hat. Ich habe gesagt:
«Ich komme sehr gerne, aber Sie müssen mir ein Visum besorgen.» Und tatsachlich,
nach drei Tagen war das Visum da.
In der Schweiz habe ich dann mit Markus, er war ein Schweizer Jude, zwei Monate
um das Visum für Frau und Kind gekämpft. Ich selber bin am 5. Mai 1940 in die
Schweiz gekommen und am 10. Mai haben die Deutschen Rotterdam überfallen.
Darauf haben ja die Schweizer die Grenzen hermetisch abgeriegelt. Nach zwei
Monaten bekam ich endlich die Visa. Vera und Svetic waren die einzigen Passagiere im
Zug von Rom in die Schweiz. Wir hatten tatsächlich mehr Glück als Verstand...
Damals waren die russischen Filmfachleute sehr begehrt. Ich kam also in die Schweiz
und sah, dass alles fehlte: Negative, Kamera, Lampen, Birnen, nichts war vorhanden, ich
musste alles mir beschaffen in Berlin. Dann haben wir den Film «Ledige Mütter –
Dilemma» (1940) gedreht.
Für seinen ersten in der Schweiz gedrehten Film («Dilemma») hatte mein
Grossvater aber anscheindend keine Arbeitsgenehmigung, was die Behörden, als
sie es herausfanden, erboste. Der Autor Herve Dumont («Geschichte des
Schweizer Films») weiss zu berichten: «Aus Paris bringt er (Markus) seinen
Ausstatter, seinen Aufnahmeleiter und den bekannten griechisch-russischen
Kamermann Stilly mit, der gerade zwischen Kairo, Nizza und Cinecitta pendelt;
zwielichtige Boheme also, was seinen gespannten Beziehungen zur
Fremdenpolizei nicht gerade förderlich ist...
Seine (Stillys) illegale Mitarbeit an «Dilemma» wird manchmal zugunsten des
Zürcher Kameramanns Harry Ringger schweigend übergangen. Stilly sollte durch
seinen besonderen Stil und seinen Werdegang verschiedene Kameraleute
beeinflussen, und dies bis in die fünfziger Jahre, als er an der Seite von Kurt Früh
arbeitete. In Westeuropa gilt er als unvergleichlicher Spezialist für Aussenaufnah-
men.»
Also, dann haben wir angefangen. Die Hauptrolle, den Vater, hat gespielt: Leopold
Biberti. Das Mädchen, Marina Rainer, war ganz neu, und der junge Mann war Lukas
Ammann, das war sein erster grosser Film. « Die ledigen Mütter - Dilemma» hatte
wahnsinnigen Erfolg, weil es der erste Spielfilm war, der in Dialekt gedreht wurde. Die
Filme in Dialekt in filmtechnisch so unterentwickelten Ländern haben immer sehr
grossen Erfolg. Die Leute wollten unbedingt Dialekt hören. Ich habe festgestellt, als ich
1934 meinen ersten ägyptischen Film gedreht habe, dass einige Ägypter sich den Film
sieben Mal angesehen haben.
Hast du eigentlich während des zweiten Weltkrieges, als du Filme gemacht
hast, auch darauf geachtet, dass der Inhalt politisch für dich stimmt?
Nein, nicht eigentlich.
Und du bist nie einer politischen Partei beigetreten?
Nein...
Warum nicht?
Nun, das hat mich nicht so interessiert... Zurück nach Zürich. Da war eine kleine
Episode, die will ich dir erzählen: Es hat geklingelt, sehr früh, so früh, dass ich war noch
im Pyjama. Ich öffne die Tür, und da steht ein Polizist in vollem Ornat, Revolver, alles.
Ich habe nicht gesagt: guten Tag oder Bonjour, sondern ich habe gesagt: «Was hab' ich
verbrochen?» Er hat gelächelt und gesagt: «Sie haben nichts verbrochen. Aber Sie haben
eine Tochter. Die Tochter muss in die Schule.» Ich habe gesagt: «Sie spricht russisch,
französisch und jetzt, nach zweieinhalb Monaten Aufenthalt in Italien, auch ein
bisschen italienisch. Aber sie spricht kein Schweizerdeutsch.» Und da sagt der Polizist:
«Das wird sie scho no leeerä». Ich habe mein ganzes Leben nie vergessen den
Ausdruck «leeerä». Na, gut... Nach «Dilemma» kam der grosse Spielfilm «Polizischt
Wäckerli».
Aber du hast doch vorher auch noch Dokumentarfilme gedreht...
Ja, aber ich erinnere mich nicht mehr an die Namen. Ich habe gemacht die ... hun-
dertfach sozusagen. Einer, der mir geblieben ist, das war ein Lehrfilm für die
Holzgewerkschaft. Weil das für die Gewerkschaft war, hab' ich sehr schnell eine
Bewilligung gekriegt.
Eine Arbeitsbewilligung zu erhalten war damals für Ausländer schwierig. So wurde
beispielsweise Stillys Mitarbeit an «Bider, der Flieger» (1941) geheimgehalten. Aus
der «Geschichte des Schweizer Films» von Dumont (leicht gekürzt): «Die Handlung
spielt in der Schweiz, Deutschland, in Frankreich und in Italien. Aufgeschreckt
verlangt die Fremdenpolizei kategorisch einen Schweizer Regisseur; Heuberger und
Schnyder sind beschäftigt. Haller lehnt ab. Werner Lenz bietet seine Dienste an, aber
er hat noch nie eine Kamera gehandhabt. Die Lösung der eigentlich
kinematografischen Fragen überträgt Schwenk (Produzent) heimlich einer
Drittperson: Den Behörden zum Trotz übernimmt Stilly die ganze
Sequenzeinteilung, die Produktionsleitung (für die Schwenk zeichnet), einen Teil
der Kameraarbeit und den Schnitt. Diese heimliche Übernahme erklärt das kraftvolle
Abheben des Films mit Bildern, für die man in andern zeitgenössischen
helvetischen Produkten vergeblich eine Entsprechung sucht.»
In deinen Unterlagen habe ich einen eingeschriebenen Brief der Fremdenpolizei
des Kantons Zürich gefunden, datiert vom 10. April 1941. Darin heisst es (ohne
Anrede und ohne freundliche Grüsse):
«Es ist Ihnen bekannt, dass Sie als kontrollpflichtiger Ausländer jeweils einer
besonderen fremdenpolizeilichen Bewilligung bedürfen, wenn Sie von einem
schweizerischen Filmproduzenten zur Mitwirkung herangezogen werden.
Dadurch, dass Sie im Jahrbuch der Schweizer Filmindustrie als Filmschaffender
verzeichnet sind, erwecken Sie den Eindruck, Sie seien jederzeit verfügbar und
könnten innerhalb der schweizerischen Filmproduktionfrei arbeiten. Diese Art von
Reklame eines unterfremdenpolizeilicher Kontrolle stehenden Ausländers ist, vom
arbeitsmarktlichen Standpunkt aus betrachtet, unzulässig. Wir ersuchen Sie daher,
diese Art Reklame zu unterlassen.»
Aber von solchen Problemen, Deduschka, hast du
mir nie etwas erzählt. Schwierigkeiten in deinem Leben hast du am liebsten
weggesteckt, schnell verdrängt oder gar nicht erst wahrgenommen. Das war deine
Methode, und du warst immer zufrieden damit. Ich weiss aber, dass ihr während des
Krieges sehr schwierige Zeiten durchgemacht habt. Du hast in Zürich sogar zeitweise
als Kürschner gearbeitet, vermutlich schwarz, um zu Geld zu kommen. Und du bist
stundenlang zu Fussgelaufen, um dich für eine Stelle zu bewerben, well du kein
Geld fürs Tram und den Zug hattest.
September 1992: Ehrlich gesagt, mein Gedächtnis hat so nachgelassen, dass ich mich
anstrengen muss, noch an irgendeinen Namen mich zu erinnern.
Erzähl einfach mal, die Namen linden wir dann schon heraus. Erinnerst du
dich an den Film «Polizischt Wackerli»?
Der war sehr bekannt, weil da spielte dieser Volksschauspieler, wie hiess er... Schaggi
Streuli. Er sass immer mit einem Schoppen Wein da. Ich hab' ihn gefragt: «Sag mal
bitte, warum bestellst du nicht gleich einen halben Liter.»
Und er hat gesagt: «Das hat schon seinen Grund. Wenn ich nämlich schoppenweise
trinke, dann kann kein Mensch wissen, wieviel ich getrunken habe.»
Nach «Polizischt Wackerli» drehten wir gleich anschliessend «Bäckerei Zürrer»,
dann «Oberstadtgasse». Für mich waren das normale Filme, sogar supernormal. Atelier
war keines da, und deshalb musste man - nolens, volens - alle Objekte und
Dekorationen in Natura drehen. Die Aussenaufnahmen sind in Zürich gedreht worden.
An den Inhalt der Filme erinnere ich mich überhaupt nicht... überhaupt nicht.
Erinnerst du dich noch an andere Schauspieler in deinen Schweizer Filmen?
Nein, überhaupt nicht... Also an den Emil Hegetschweiler erinnere ich mich. Der war
damals schon ein alter Mann, weisshaarig, sehr bekannt. Der hat den Bäcker Zürrer
gespielt. Und die Margrit Rainer hat auch irgendwo mitgespielt, mit dem Ruedi Walter.
Und der Regisseur war Kurt Früh.
Aber an den erinnerst du dich sicher noch?
Ja klar, mit dem hab' ich drei Filme hintereinander gedreht.
Und wie war die Zusammenarbeit?
Nu, Zusammenarbeit mit mir war in allen Filmen sehr gut, weil ich eben sehr adaptive
und diplomatisch bin. Und auf alle Fälle war es immer so, dass ich der Hauptfilmmann
war. Ich hatte ja damals schon zwanzigjahre Erfahrung im Film. Und der Regisseur...
die waren damals alle sozusagen neu. Ich habe ja alles gemacht, nicht nur Kamera
oder Licht, ich habe die Filme filmerisch gestaltet. Unter uns gesagt, ich habe ja auch
halb Regie geführt. Den Filmschnitt, die Synchronisation, alles hab' ich gemacht.
Der bekannte Regisseur Kurt Früh allerdings erwähnt den Namen Stilly in seinem
Büchlein «Rückblenden» (Pendo-Verlag) nur gerade einmal: «Mein Kameramann
Stilly pflegte zu sagen: «Film ist Mathematik. Jede überflüssige Szene ist
hinausgeschmissenes Geld». Über dessen künstlerische Qualitäten schweigt er sich
aus.
Dann kam noch ein Film - der ist aber ganz flach herausgekommen. Der hiess «Hast
noch der Söhne ja». Ich hab' vom ersten Tag, wo ich das Drehbuch gelesen habe,
gesagt: «Das ist nichts für einen Film. Ausser dass er schweizerisch ist, hat er keine
Elemente für einen guten Film.»
Bei diesem Film habe ich eine filmtechnische Neuheit eingeführt: Das erste Mal in
meinem Filmleben - in der Schweiz gab's das sowieso noch nie - habe ich von einer
Nahaufnahme bis zur Totale in einer einzigen Einstellung gedreht. Ich bin von der
Grossaufnahme, ganz nah auf dem Gesicht der Schauspielerin, weggefahren, bis der
Ganze
Bellevueplatz erfasst war. Das habe ich so gemacht: Ich habe mir ein Feuerwehrauto mit
einer riesigen Leiter besorgt, die beweglich ist nach allen Seiten. Zuvorderst war eine
Kabine.
Da kam die Kamera und der Kameramann hinein. Der Assistent hatte keinen Platz.
Einen Assistenten brauchte man damals, weil der musste die Schärfe mitziehen. Das
musste ich in diesem Fall selber machen. Ich bin also in diesem Korb dringesessen mit
der Kamera. Die Leiter wurde zuerst nach oben und dann zurückgekurbelt, und am
Schluss ist noch der Feuerwehrwagen zurückgefahren, bis ich den ganzen Bellevueplatz
erfasst hatte. Das war damals filmtechnisch eine Sensation.
Und das war allein deine Idee?
Ja, Idee und Ausführung. Ich habe zweimal grosse filmtechnische Sensationen
gehabt. Das erste Mai war in «Niemandsland» mit Victor Trivas.
Und was war da die filmtechnische Sensation?
Nun, «Niemandsland» (1931) war der erste Film von Trivas, der ein Welterfolg
geworden ist. Da war eine Episode: Bei der Premiere, gerade nach dem Ende des
ersten Aktes, hat jemand geschrien im Saal. Da haben nämlich die Nazis weisse Mäuse
rausgelassen im Saal, weil das ein Antikriegsfilm war, haben auf ihre - für meine
Begriffe dumme - Art und Weise protestiert gegen diesen Film. Die Polizei kam, man
hat den Saal geleert und gesagt, dass die Karten sind eine ganze Woche gültig. Aber
viele haben ihre Billete weggeworfen. Der Film hatte wahnsinnigen Erfolg. Und heute
ist er in der Cinemathek Lausanne und in Paris und im Museum of Modem Art in New
York.
Aus dem «Filmführer» von Dieter Krusche: «Niemandsland» ist einer der wenigen
pazifistischen Filme, die in der Weimarer Republik gedreht wurden; nach der
Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde er bald verboten.
Aber was war denn nun diese filmtechnische Spezialität, die du da
eingebaut hast?
Ja, da hab' ich sogar geweint in der Diskussion mit Trivas. Im Film war ein Gespräch ...
Das Thema ist doch, dass da fünf verschiedene Leute in so einem Loch zwischen den
Fronten gesessen sind, ein Engländer, ein Deutscher, ein Franzose, ein russischer Jude
und ein Italiener. Die alle fünf sassen also zusammen und redeten darüber, dass Krieg
ist Unsinn. Ich habe die Kamera so gestellt, dass ich zwei Profilie praktisch
hintereinander im Bild hatte, von zweien, die miteinander gesprochen haben. Mit dem
langbrennweitigen Objektiv, 75 Millimeter, hab' ich den ersten im Bild gehabt und dann
den zweiten, als er zu sprechen begann, nur mit der Schärfe geholt. Und der andere ist
dann ganz verschwommen. Und wenn ich dann auf den ersten wieder scharf stelle,
zerlegt sich der andere in Unschärfe. Und darüber war diese Diskussion mit Trivas.
Trivas wollte das nicht. Er fand das sehr ungewöhnlich und meinte, das Publikum
würde das nicht verstehen und pfeifen, wenn einer wird plötzlich unscharf. Aber - das
war hundertprozentig akzeptiert, und in einigen Kritiken war das auch speziell
erwähnt.
Damals hatte das Publikum also die Sehgewohnheit, dass alles immer
scharf sein musste?
Ja, das war damals so. Unscharfe war sehr ungewöhnlich.
Magst du noch erzählen? Hast du Schmerzen?
Nein, nein, ich fühle mich gut. Ich muss sagen, ich habe ein wahnsinnig bewegtes
Leben gehabt, bin sehr viel gereist. Ich habe in der Türkei gedreht, in Madrid, in Rom,
in Ceylon. Und in der Schweiz, ich erinnere mich gar nicht an alle Filme... Und ich
habe mit sehr vielen bekannten Schauspielern gearbeitet: Danielle Darrieux, Maria
Becker... Und mit vielen guten Regisseuren: Trauberg, Früh, Siodmak, das war der beste
von allen. Aber ich habe mit allen sehr gem gearbeitet, weil ich hatte immer auch
grossen Einfluss auf die Dreharbeiten, auf das Drehbuch, auf die Dramaturgie. Ich
war immer sehr zufrieden.
Deduschka, jetzt erzähl mir von deiner Zeit in München.
Nach München bin ich gezogen - ich behaupte 62 und Herta behauptet, dass es 61
war. Wahrscheinlich hat sie das bessere Gedächtnis als ich.
Ich habe also gedreht - immer für andere. Und dann war eine Pause. Und dann, in der
Pause, hab' ich zum ersten Mal produziert. Das war «Die Kunst der Etrusker» in
Zürich.
Ich habe letzthin auf dem Dachboden eine nigelnagelneue Kopie von diesem Film
gefunden. Den habe ich nicht nur selber gedreht, sondern auch selber finanziert. Klar,
das war nicht mein Geld, sondern ich habe Geldgeber gefunden. Es war damals eine
grosse Ausstellung über Etrusker in Zürich mit Exponaten aus der ganzen Welt, und
ich habe eine Drehbewilligung bekommen. Das Material war sehr interessant. Ich habe
eine spezielle elektrische Drehscheibe bauen lassen, so dass ich die Stücke draufstellen
konnte. Auf Knopfdruck drehte sich das, schneller oder langsamer. Das ist sehr schön,
wenn eines dreht - und dann ist die Überblendung - und jetzt kommt das andere dran
Der Film lief im Kino Rex, am Anfang der Bahnhofstrasse in Zürich. Und der ist da
gelaufen zwei Wochen im Abendprogramm und fast ein ganzes Jahr jeden Sonntag als
Filmmatinee.
Dann hab' ich Herta in München kennengelernt. Und Herta hatte eine phantastische
Ähnlichkeit mit einem Porträt einer etruskischen Dame. Ich war einfach hin ...
Also, und jetzt hab' ich gefunden eine nigelnagelneue 16-mm-Tonkopie. Die will ich
dem Fernsehen verkaufen. Das ist mein einziges (Capital, was ich noch zu verkaufen
habe. Auf alle Fälle hoffe ich, dass ich von der deutschen Version 25 000 bis 30 000
herausschlage. Wenn 20 000 bleiben, bin ich auch zufrieden, unter uns gesagt. Ich
habe jetzt 1600 Rente. Und das reicht selbstverständlich nicht für eine Ferienreise
nach Kalifornien, die ich noch einmal machen will. Ich will da den Doktor (Murmann)
noch einmal sehen. So ist das.
Ja, so ist das. Das sagst du, als ob es ganz selbstverständlich wäre, dass du noch
reisen kannst. Dabei, Deduschka, bist du doch krank, todkrank, kannst fast nicht
mehr gehen.
Dennoch schmiedest du immer noch Pläne, hast immer noch etwas vor. Gedanken
ans Sterben lässt du wahrscheinlich gar nicht aufkommen. Tief drin, so denke ich,
weisst du trotzdem, dass deine Zeit bald kommt. Ich bewundere deine zähe
Lebensgier und deinen unerschütterlichen Optimismus. Manchmal ist er mir aber
auch unheimlich.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie du im Sommer 1982, als ich hochschwanger
war, nach der Amputation deines Fusses zu mir gesagt hast: «Jetzt will ich noch
nicht sterben. Ich will noch mein erstes Urenkelkind erleben.» Und dann hast du
mir viele Tips gegeben, wie ich es anstellen müsse, damit es ganz sicher ein Bub
wird. Ich habe gelacht, weil es für mich ganz egal war, Madchen oder Bub. Aber
für dich war es ja enorm wichtig, einen Sohn zu haben. Als dieser geboren wurde,
war ich selber gerade zweijährig. Und deine Frau wusste nichts von Koni, deinem
unehelichen Sohn.
Ich habe irgendwie Glück gehabt. Nicht nur beruflich. Auch mit Herta. Ich meine,
finde doch heute mal ein unverheiratetes Paar, das 31 Jahre glücklich zusammenlebt.
Früher hat ja deine Babuschka noch gelebt, also meine Frau. Und die wollte sich nicht
scheiden lassen. Dabei war sie nie mit meinem Lebenswandel einverstanden, weil ich
hatte sehr viele Abenteuer, viele Mädchen ... Wenn sie eingewilligt hätte, dann hätte ich
mich scheiden lassen.
Sag mal, wie hat denn Babuschka von Koni erfahren?
Sie hat erst, als er vierjährig war (1962) erfahren, dass er da ist. Es war so: Ich habe
damals in Chur einen Holzfilm gedreht. Konis Mutter war da Telefonistin. Ich hab' mich
mit ihr befreundet, das ist klar... Und ich habe ihr erzählt, dass meine Frau jetzt keine
Kinder mehr haben kann. Ich hab' gesagt: «Ich aber möchte noch Kinder. Ich möchte –
heute nennt man das Leihmutter - ich möchte einer Frau 10 000 Franken zahlen,
dass sie mir das Kind macht und abgibt.» Sie hat gesagt: «Weisst du was, du brauchst
keine 10 000 zu bezahlen. Ich mache dir ein Kind.» Das war der Gipfel meiner
Wünsche. Gut, gesagt, gemacht. Ich habe freiwillig die Vaterschaft anerkannt und
immer bezahlt.
Als Koni vier Jahre alt war, kam ich einmal von der Arbeit heim und war verschwitzt.
Es war mein Fehler... Ich habe meine Frau gebeten: «Gib doch meine Jacke in die
Reinigung, sie ist ganz verschwitzt.» Am Abend komm' ich nach Hause und sehe in
der rechten Ecke über der Tür - da, wo die Ikone immer hängt - ist mit einem
Reissnagel das kleine Passfoto von Koni angespiesst.
Das war für Babuschka sicher sehr schlimm.
Jaaa ... Jetzt erst versteh' ich, wie schlimm das für sie war. Nicht nur schnell-schnell so
eine Liebhaberei, sondern mit Sohn.
Was hat sie dann gemacht? Hat sie dich zur Wohnung rausgeschmissen?
Nein, im Gegenteil. Ich habe meinen Koffer gepackt und bin nach München gefahren.
Der Doktor, der hatte ja früher schon versucht, mich abzuwerben. Ich bin also zu
Murmann und habe gesagt: «Jetzt bin ich frei, wollen sie mich noch haben?» Und er
hat keine Sekunde gezaudert und gesagt: «Kommen Sie doch morgen vorbei.»
In München wurde Georg Stilly Produktionschef bei der «Neuen Film Allianz».
Unter seiner Mitwirkung wurde die Allianz 1964 an den «Europa Film-Ring»,
Hamburg, verkauft. Kurze Zeit später ging jedoch der EF-Ring Pleite, und auch
die «Neue Film Allianz» musste Konkurs eröffnen. Darauf wurde er selbständiger
Produzent. Seine Firma nannte er «Top-Film».
Nach der Pleite der «Neuen Film Allianz» übernahm er die vorbereiteten Filme
«Blutige Seide» (1964, Regie: Bava) und «Heisse Spur Kairo~London», eine Co-
Produktion mit Ägypten und ltalien, und stellte diese fertig. Es folgten: «Der nächste
Herr, dieselbe Dame» (Regie: Ratony), «Zieh dich aus, Puppe» (Regie: Ratony),
«Radjapura - Endstation der Verdammten» (Regie: Albin), «Der Mann von Toledo*
(Co-Produktion mit ltalien und Spanien), «Pudelnackt in Oberbayern» (Regie:
Billian) und «Party-Fotograf» (beide für die Nora Film). Dann aber ging die Nora
Pleite, und als Folge musste auch seine Top-Film den Konkurs anmelden. Das war
im Jahre 1969- Danach betätigte er sich ausschliesslich als Immobilienmakler und
Architekt.
Rückblickend kann man sagen, dass sein Wegzug nach Deutschland eine Zäsur
war. Seine künstlerisch-kreative Filmzeit, und damit eine wichtige Phase seines
Lebens, war beendet. Er hat in München nie mehr als Kameramann für die
Fotografie verantwortlich gezeichnet, sondern einzig die kaufmännischen und
produktionstechnischen Seiten der Filmarbeit betreut. Die in schneller Folge
produzierten Sexfilme brachten damals gutes Geld. Er hat sich aber mit seiner
Arbeit, auch wenn sie in erster Linie ein «Brötli-Job» war, immer hundertprozentig
identifiziert. Halbe Sachen lagen ihm nicht, und das Zahlenjonglieren fiel ihm
leicht. Als kreative Arbeit, in die er wiederum seine ganze Leidenschaft hineinsteckte,
empfand er hingegen seine Einsätze als Architekt.
Ich habe gebaut, ja. Und da hat mich nicht mal einer gefragt, ob ich Architekt bin. Ich
habe ein grosses Haus in München, an der Klenzestrasse 81, gekauft für sage und
schreibe 300 000 Mark. Dann habe ich da alles abgerissen und ein neues Haus mit 36
Wohnungen gemacht und dann das Haus für 600 000 Mark verkauft. Und mein
Compagnon, der hat gesagt: «Stilly, ich habe so schnell noch nie so viel Geld verdient.»
Und das hab ich zweimal gemacht. Jetzt kann man das nicht mehr machen, weil alles
ist so teuer. Damals, das war 1977, hab' ich ja unter 3000 Mark pro Quadratmeter
bezahlt.
Als du nach München kamst, hast du aber zuerst noch Filme produziert.
Ich habe sieben Filme gemacht, aber alle ganz schnell.
Deduschka, du hast mir nun schon viel von deiner Zeit in Russland
und auch in der Schweiz erzählt. Aber über deine Filme nach
1960 weiss ich noch nicht sehr viel.
Aber ich hab dir doch von diesen sieben Filmen erzählt.
Nicht ausführlich.
Also, da war folgendes. Da war der Regisseur Ratony, ein Ungar. Der hat die ersten
erotischen Filme gemacht. Ich habe damals gerade ein Filmangebot gemacht, an die
Frau Kubaschewski, die die Gloria führte. Und sie hat gesagt: Ja, ich möchte schon
einen Film. Aber in der Art, wie sie der Ratony macht, ein bisschen erotisch. Ich habe
mich mit ihm in Verbindung gesetzt und ihr darauf sofort ein Angebot gemacht für
den Film «Zieh dich aus, Puppe». Das war ein sehr grosser Erfolg, weil der war
tatsächlich erotisch. Das war einer von den sieben, mit dem hat's angefangen. Dann
drehten wir «Pudelnackt in Oberbayern». Ja nun ... meine Filme waren alle ein
bisschen erotisch. Das ist ja das, was das Publikum will.
Damals hatte man aber mit der FSK (Freiwillige Selbstkontrolle) immer Theater. In
einem Film hatte ich einen Schatten - nur den Schatten! - von einem nackten
Mädchen. Aber man hat deutlich gesehen, dass sie nackt war. Und das musste ich
rausschneiden, die Zensur hat das nicht durchgelassen. Einen Schatten! Ohne FSK
bekam man aber keine Vorführerlaubnis.
Du hast dich also mit denen rumgeärgert.
Ziemlich. Für jeden Zentimeter Popo musste man kämpfen. In einem Film hatten
wir eine Vergewaltigungsszene. Die hat der Ratony gedreht, aber da war er schon
krank. Er war sehr krank. Die war so fad, dass ich ihm sagen musste, dass sie nicht
brauchbar ist. Vergewaltigung muss immer Gewalt in sich haben. Ich hab' dann die
ganze Szene nochmals gedreht. Ich habe den Schauspielern eingeprägt, dass die
Szene brutaler sein und echt aussehen muss. Und das war so echt, dass ich mir
gesagt habe, dass ich selber ohne weiteres Regie führen konnte. Besser als sehr viele
andere.
Hast du mit diesen Filmen, die du in Deutschland gemacht hast, gut
verdient?
Nun, ha! Wir haben immerhin davon zehn Jahre gelebt. Ich habe vierzigjahre im
Film gearbeitet und vierzigjahre sehr gut verdient. - Ich habe nachgedacht: Ich bin mit
meinem Leben - toi, toi, toi - sehr zufrieden. Und alle Kinder und Kindeskinder sind
auf dem guten Wege. Und wenn mir jemand sagt: «Klar, dass du glücklich bist, du hast
ja alles», dann antworte ich immer: «Von nichts kommt nichts.»
Und wenn du nochmals wählen könntest? Würdest du irgend etwas in
deinem Leben anders machen?
Nein. Gar nichts.
Im Herbst 92 konnte Deduschka nicht mehr zurück nach München. Sein
gesundheitlicher Zustand - er war nun vollständig rollstuhlabhängig - liess dies
nicht mehr zu. Er wurde ins Chronisch-Krankenheim Baden eingewiesen. Beschwert
hat er sich nie über den stumpfsinnigen Tagesablauf und die öde Enge des
Gebäudes. Nur einmal hat er, der Weitgereiste und Weltgewandte, mir gesagt:
«Weisst du, hier sind die Wände so nahe...»
November und Dezember weilte ich im Ausland. Als ich Anfang 1993 zurückkam,
sprach er praktisch nicht mehr. Seine Beine warm mit offenen Schwären übersät,
die aufgrund seiner Diabetes nicht mehr zuheilten, und er bekam hohe Dosen
Morphium. Er klagte nie, interessierte sich aber in seinen lichten Momenten wie
immer für die Familie, schäkerte mit den Krankenschwestern und machte mir
Komplimente über die Frisur, einen hübschen Pullover oder meine Beine. Übers
Sterben haben wir nie geredet, obwohl klar war, dass er nicht mehr lange zu leben
hatte. «Mir geht's gut. Nächste Wochefahre ich nach München, ich bin ja praktisch
gesund», sagte er immer, Optimist bis zu seinem letzten Lebenstag. Am 18.
Februar 1993, kurz vor seinem 89- Geburtstag, starb er.
Auf seinen Wunsch wurde er kremiert. Und damit begann ein peinliches
Trauerstück: Der verantwortliche russisch-orthodoxe Pope weigerte sich, eine
Abdankung durchzuführen.
Die Familie klopfte daraufhin, ziemlich ratlos, bei der griechisch-orthodoxen Kirche
an. Aber auch diese wollte mit dem eingeäscherten Leichnam nichts zu tun haben,
da ja die wertvolle Seele quasi mitverbrannt sei. Der zuständige Pope erklärte sich
allerhöchstens dazu bereit, das Grab zu segnen, eine Zeremonie oder auch Musik
könne er unter diesen Umständen nicht billigen. Die (reformierten) Schweizer
Familienangehörigen waren dem Verzweifeln nahe. Wie sollte man unter solchen
Umständen zu einem einigermassen anständigen Begräbnis kommen? Am Ende
stellte sich freundlicherweise der katholische Pater in Ennetbaden zur Verfügung,
die Abdankung in ordentlichem Rahmen durchzuführen.
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