Кинооператор Юрий Константинович Стилианудис
Интервью 1982 г.  Интервью 1992 г. (рус.)  Интервью 1992 г. (нем.)
Фотограф Иван Герасимович Букин и его потомки
Фотоальбом Букиных

Jura Konstantinowitsch Stylianoudis,
der griechische Kameramann,
der in Russland aufwuchs
und in Baden starb

von Tanja Funk



     Nu also, ich werde beginnen meine Geschichte ganz von vorne. Mein Name - mein Name ist Georg - das ist auf russisch Jura. Und dann kommt der Name des Vaters - Konstantinowitsch. Das heisst, dass ich der Sohn von Konstantin bin. Der Familienname ist ein bisschen lang: Stylianoudis. Mein Name ist griechisch, weil mein Vater Grieche war. Schon in der Schule hat man mich verkürzt Stilly genannt. Ich arbeitete im Film auch später unter meinem - ich hab' es genannt Künstlernamen: Georg Stilly. Und so ist es in verschiedenen offiziellen Dokumenten und auch im Handelsregister München eingetragen.

     Ich bin am 29. Februar 1904 in Odessa geboren. Mein Vater ist von Griechenland seinerzeit nach Odessa am Schwarzen Meer gezogen, weil in Griechenland waren sehr wenig Chancen für einen Chefbuchhalter, eine gute Stelle zu bekommen. Wir waren drei Brüder. Ich war der mittlere, der ältere war zwei Jahre alter, der jüngere zwei Jahre jünger.

     Als ich zirka sechs Jahre alt war, hat der Vater in der gleichen Bank eine neue Stelle bekommen, das heisst, er wurde abkommandiert nach Sankt Petersburg als Bankdirektor. Seine erste Handlung war, uns alle drei in die beste und teuerste Schule zu stecken. Er hat ausgewählt die Deutsche Petri-Schule, die an die Lutherische Kirche Petrus und Paulus angeschlossen war. Der Unterricht war in Deutsch. In meinem späteren Leben hat sich sehr oft herausgestellt, dass die Kenntnis der deutschen Sprache mir enorme Vorteile in der Arbeit gebracht hat.

     Ich habe auch erlebt die Anfänge und die Gestaltung des sowjetrussischen Staates. Als ich zirka vierzehn Jahre war, kam die Oktoberrevolution. Kurz nach der Revolution haben die Bolschewiken die Safes der Bank öffnen lassen und haben sie alle geplündert. Mein Vater als bourgeoiser Kapitalist blieb arbeitslos. So war die Familie ohne eine Kopeke, und wir sassen auf dem trockenen. Daher hat ja der Vater immer gepredigt: «Kinder, ihr sollt lernen, lernen und lernen. Das, was ihr im Kopf habt, das können die Bolschewiken euch nicht wegnehmen.»

     Der Vater wollte, dass wir Elektroingenieure wurden, weil zu der Zeit gab es in Russland fast keine Elektrizität. Nur in der grossen Stadt wie Petersburg war schon elektrisches Licht. Das war eine belgische Gesellschaft - die Russen selber hatten nicht mal anständige Elektrostationen. Damals haben die Kinder ja noch auf den Vater gehört. Wir folgten also dem Widen des Vaters und sind eingetreten, beide, mein älterer Bruder Nikolaj und ich, in die Elektrotechnische Hochschule in Sankt,... ah, nicht Sankt Petersburg, sondern es hiess schon Leningrad. Ich habe dann zu Nikolaj gesagt: «Wir müssen uns jetzt überlegen, was wir tun können, um zu lernen und gleichzeitig die Familie überhaupt über Wasser halten zu können.» Wir beschlossen, Filmvorführer im Kino-Theater zu sein. Die Arbeit ging ab sechs Uhr abends bis elf oder zwölf Uhr nachts, und der ganze Tag war frei und man konnte lernen. Als wir da anfingen, mussten wir den Film noch mit der Hand drehen. Es gab keine elektrischen Motoren. Wahrend meiner ganzen Studienzeit, fünfeinhalb Jahre, habe ich im Kino als Vorführer gearbeitet.

     Im Kino, wo ich arbeitete, waren zwei Platzanweiserinnen. Also eines Abends ... komm' ich raus, und da kommt gerade eine der Platzanweiserinnen, übrigens die nettere, auch raus und sagt: «Ah, das ist gut, dass du jetzt auch rauskommst. Nämlich, es ist so vereist» - es war ein harter Winter, zirka minus zwanzig Grad Kalte - «und zu zweit ist es viel leichter, über die vereisten Strassen zu laufen als allein.» Ich habe gesagt: «Ich begleite dich sehr gerne nach Hause.» Vor ihrem Haus hat sie gesagt: «Es ist so wahnsinnig kalt. Willst du nicht eine Tasse heissen Tee trinken?» Ich war auch durch gefrostet und habe gesagt: «Ja, sehr gerne.» Wir sind also ins Haus gegangen, und sie hat gesagt: «Ich mache gleich Tee.» Nach einiger Zeit ist sie wieder in die Stube ge-kommen und hat das Tablett abgestellt. Ich habe sie angeschaut... und wurde rot. Sie hatte nämlich einen Morgenrock an, der zugeschnürt war. Vorne war aber eine Spalte. Und durch die Spalte hat man gesehen den splitternackten Körper. Das war wohl das erste Mal, dass ich eine reife Frau, wenigstens einen Teil davon – allerdings interessanten Teil, von der Frontseite - gesehen habe.

     Weisst du, Deduschka, was ich dachte, als ich dieses Tonband das erste Mal abhörte? Ich dachte: Typisch Deduschka, da stellt er sich vor, und bevor er etwas über seine Filmarbeit sagt, erzählt er Frauengeschichten.

     Du gestattest, dass ich dich kurz noch fertig vorstelle: Mein Grossvater ist Jura Stylianoudis, ein Grieche, geboren 1904 in Odessa und aufgewachsen in Russland. 39 Jahre seines Lebens arbeitete er für den Film, zuerst als Kameramann und Schnittmeister, später auch als Produzent. 1940 kam er, der erfahrene und gefragte Sowjet-Filmfachmann, der mit so berühmten Leuten wie Sergej Eisenstein, llja Trauberg, Walter Ruttmann, Viktor Trivas, Anatol Litvak und Max Ophiils zusammengearbeitet hatte, mit seiner Frau und seiner Tochter (meiner Mutter) in die Schweiz. Die Schweiz war damals in filmtechnischer Hinsicht, so seine Worte, noch «völlig unterentwickelt». Hier fotografierte er eine Unzahl von Filmen, anfänglich Dokumentarfilme bei der Filmgesellschaft «Praesens», später dann Spielfilme bei der «Gloria». Oft zeichnete er für den Schnitt dieser Filme verantwortlich, und seine fundierte Erfahrung war auch bei Fragen der Filmdramaturgie oder der Produktion willkommen. Auf deutsch nannte er sich Georg Stilly, und unter diesem Namen ist er auch im Nachspann vieler bekannter Schweizer Filme aufgeführt, bei denen er als russischer Kameramann sein reiches Wissen einbrachte. Seine bekanntesten Arbeiten in der Schweiz datieren aus den fünfziger Jahren und sind jedem Filmfreund ein Begriff «Polizischt Wäckerli», «Bäckerei Zürrer» und «Oberstadtgass» (Regie: alle Kurt Früh).


     Sie hat sich neben mich gesetzt, ganz dicht, hat Tee eingegossen und hat gesagt: «Nu, jetzt trinken wir.» Sie hat ihre Hand auf meine Schulter gelegt und hat ein bisschen am Nacken in den Haaren gekrabbelt. Dann hat sie gesagt: «Du, ein richtiger Mann hatte das nicht aushalten können.» Ich hab' gesagt: «Was soll ich nicht aushalten können?» Sie hat ihre Tasse abgestellt und die rechte Hand mir direkt auf den Hosenschlitz gelegt und hat angefangen, den aufzuknöpfen. Damals waren ja noch keine Reissverschlüsse, sondern normale Knopfe. Ich bin dagesessen wie ein dummes Schaf und war so... perplex, dass ich mich gar nicht wehren oder irgendwas unternehmen konnte. Ich hab' sie einfach werken gelassen. Sie hat den Kameraden rausgeholt, der war schon in voller Form, Starke und Grosse, und... Der Akt war sehr kurz, weil ich war schon so aufgeregt, dass ich nicht viel machen konnte. Mir hat es überhaupt keinen Spass gemacht. Ich habe mich angezogen, habe den Tee nicht mal zu Ende getrunken, sondern bin schnell, schnell nach Hause gelaufen.

     Januar 1993: Ich merke, ich werde etwas nervös. Warum bloss? Weil ich, deine Enkelin, dein erstes, lapsiges Liebesabenteuer mitkriege? Weil mir deine Schilderung so unverhältnismässig lang (ich hab 'ja mindestens die Hälfte gekürzt) und ziemlich kitschig vorkommt? Weil ich dich vor mir sehe, alt und todkrank, und weiss, diese saftstrotzenden Zeiten, die dir so wichtig waren, sind unwiederbringlich vorbei? Den ganzen Tag liegst du im Regionalen Krankenheim Baden im Bett, deine Beine sind mit brandigen Wundlochern übersät, und in dem elend engen Zimmer hängt unentwegt Verwesungsgestank.

     Als ich dich gestern besucht habe, bist du nur ganz kurz aufgewacht. «Mir geht es sehr gut», hast du auf meine Frage geantwortet, das Wörtchen «sehr» hast du extra betont. Und dann bist du gleich wieder eingeschlafen. Deine Hände waren eiskalt. So dämmerst du deinem Tod entgegen.

     Es kommt mir dieses Bild in den Sinn, wie du an unserem sonntäglichen Esstisch sitzt und, während die Familie rundum plaudert, eingenickt leise schnarchst. Hat man dich dann angesprochen, nahmst du den Gesprächsfaden jeweils ohne das geringste Zögern auf, als hättest du die ganze Zeit alles mitbekommen. Auch in früheren Jahren, als du noch als Kameramann gearbeitet hast, sollst du öfter unter deinem schwarzen Tuch hinter der Kamera gedöst haben. Auf das Kommando «Kamera ab!» warst du aber sofort voll da.


     Ich bin dann für eine Weile der Platzanweiserin aus dem Weg gegangen. Doch zirka nach zwei Wochen komm' ich raus, und da steht sie und wartet. Sie kommt auf mich zu und sagt: «Sag mal bitte, warum meidest du mich eigentlich? Hat es dir nicht gefallen?» Ich habe gesagt: «Ja, gefallen hat es schon, aber ich habe viel zu tun und...» Und dann hat das alte Lied begonnen: «Willst du mich begleiten? Willst du eine Tasse heissen Tee?» Wir haben nur paar Schlucke getrunken, und dann hat die gleiche Prozedur angefangen. Sie hat wiederum die Initiative übernommen und bald sind wir schon gewesen bei dem besten Liebesakt. Dieses Mal ist es nicht so schnell gegangen. Ich habe mich zurückgehalten, damit man ein bisschen mehr Freude hat. Am nächsten Tag haben wir uns verabredet, und dann kam das gleiche Spiel...

     Und soweit rund sofort...

     Nach dem Abschluss mit Diplom an der Elektrotechnischen Hochschule habe ich zusätzlich noch die Architekturausbildung an der Akademie der Kunst in Sankt Petersburg gemacht. Nach zwei Jahren war ich mit der Akademie fertig, denn die technischen Fächer von der Elektrotechnischen Hochschule wurden mir angerechnet.

     Ich habe meine Diplomarbeit gemacht und gewartet aufs Architekturdiplom. Da kam die Bombe: Ich wurde ins Parteikommitee eingeladen, und die Genossen sagten: «Towaritsch, du hast jetzt zwei Hochschulen auf Staatskosten absolviert. Du hast einen ausländischen Pass, und früher oder später wirst du doch abhauen. Also, dann bekommt der Staat nichts für die Lehre, die du bei uns gratis gemacht hast. In die Partei wolltest du niemals eintreten, das ist deine Sache. Aber jetzt musst du unbedingt Sowjetrusse werden und in Russland bleiben.»

     Der Vater hat uns auch gelehrt: Niemals sofort eine Antwort geben, nicht ja, nicht nein sagen, sondern erst mal die Angelegenheit überschlafen. Und dann, mit freiem Kopf, am nächsten Tag, sollte man erst handeln. Das hab' ich auch getan und am nächsten Tag gesagt: «Ich will eigentlich bei meinem Pass bleiben. So bin ich geboren, mein Vater war Grieche, mein Grossvater war Grieche, und ich sehe keinen Grund, dies zu ändern.» Ich wollte auch aus dem Grund nicht, weil ich dann sofort zwei Jahre Militärdienst hätte machen müssen, noch dazu in Sibirien. Da kam der Schlag: «Dann kriegst du kein Diplom!» Dabei wussten die ganz genau, dass man ohne Papiere in Russland überhaupt nicht arbeiten konnte. Man konnte nicht mal Strassenfeger werden. Man musste ein Papier haben zur Bestätigung, dass man Strassenfeger ist.

     Die haben gedacht, dass ich in zwei, drei Wochen auf allen Vieren zurückkrieche und werde um den sowjetrussischen Pass betteln mit der Begründung: Ich möchte arbeiten. Aber die haben sich verrechnet. Ich habe nämlich erstens mal das Diplom als Elektroingenieur gehabt, also konnte ich solch eine Stelle sofort annehmen. Es war Mangel an Ingenieuren. Und zweitens: Ich habe in den fünfeinhalb Jahren, die ich als Vorführer in der Kabine gesessen habe, den Film so lieb gewonnen, dass es mich eigentlich schon damals an allen Fasern zum Film zog.

     Ich bin also gegangen am nächsten Tag ins Filmstudio (Sovkino), das knapp ein Jahr zuvor erst gegründet worden war. Da fehlten Leute, das wusste ich. Ich war sofort engagiert als Kameraassistent für die «Wochenschau». Dann hat sich rausgestellt, dass von den dreihundert Mitarbeitern der Filmfabrik - also inklusive Direktor und dem letzten Kulissenschieber - kein einziger die deutsche Sprache beherrschte, konnte weder lesen oder sprechen deutsch. Dabei musste man das ganze Filmmaterial, also nicht nur Negativ und Positiv, sondern auch Chemikalien, Entwicklungsmaschinen, Apparaturen, Scheinwerfer, Lampen, Kohlen, einfach alles, aus dem Ausland, beziehungsweise Deutschland, beziehen. In Russland gab es überhaupt nichts. Wir haben es umgerechnet damals: Ein Meter Film kostete wahnsinniges Geld, gleich viel wie ein Kilo Weizen. - Also, ich wurde sofort in die Einkaufskommission delegiert, und habe alle Bestellungen für die ganze Filmfabrik in Berlin getätigt, und habe da telefonisch und brieflich den Chef der Handelskammer Abteilung Film kennengelernt. Das war Alexander Lagorio. Später hab' ich mit ihm in Berlin zusammengearbeitet.

     Vier Monate nach meinem Eintreten in die Sovkino war ich schon zum Chef- Kameramann ernannt und hatte siebzehn Leute unter mir. Ich musste die disponieren, in ganz Russland rumschicken, wo was Interessantes für die Wochenschau passierte. Und ich musste die Wochenschau selber schneiden, selber montieren, selber konstruieren, selber die Titel machen, denn das waren ja Stummfilme. Heute gibt's für diese Arbeit Redakteure, Monteure, Regisseure und so weiter, damals war die ganze Arbeit in einem einzigen Paar Hände. Wir waren sehr aktuell: die Aufnahmen vom Mittag konnte man schon in der Abendvorführung zeigen.

     Ich war in der «Wochenschau» zwei Jahre und da hab' ich wirklich sehr, sehr viel gelernt. Hauptsächlich, aber nicht nur, waren das Aufnahmen im Freien, aber auch grosse Szenen mussten ausgeleuchtet werden. Ich habe alle kommunistischen Parteitage gedreht. Ja, ich habe alle seinerzeit wichtigen Bonzen gekannt. Ich war sehr zufrieden.

     Nach zwei Jahren Arbeit in der «Wochenschau» hat mir ein alter, zaristischer Regisseur, Herr Iwanowski, angeboten, einen grossen Spielfilm zu machen. Das war das grösste Projekt in dieser Zeit, ein Film mit vierzig Dekorationen. Der Film hiess «Lomanossow». Lomanossow war ein sehr, sehr bekannter russischer Wissenschaftler. Die Universität in Moskau trägt heute noch seinen Namen. Ich habe die Arbeit akzeptiert. Aber da kamen die siebzehn Kameraleute, meine Arbeitskollegen, auf mich los: «Was willst du mit dem alten Kacker?» Ich habe gesagt: «Ich will lernen, im Studio Dekorationen aufzunehmen mit Licht. Das ist eine grosse Chance. Ihr könnt doch auch nur Aussenaufnahmen machen, von Licht und Dekorationen habt ihr doch keine Ahnung!»

     Ich habe also dann den Film gemacht, und ich hatte vollkommen recht. Die ersten zwei Dekorationen hab' ich nämlich hundertprozentig versaut. Der Hintergrund war vorne, vorne hat man nichts gesehen, es war dunkel. Aber keiner kontrollierte die Dreharbeiten, also hat der Regisseur einfach gesagt: «Nu ja, das ist nicht gelungen, wir drehen das Ganze noch einmal.» Das zweite Mai war alles in bester Ordnung. Der ganze Film war zumindest sehr anständig fotografiert. In Russland hatte selbstverständlich ein Film mit Namen «Lomonossow» sehr grossen Erfolg.

     Nach diesem Film hab' ich dann mit einem jungen Regisseur, mit Ilja Trauberg, ein Lustspiel gedreht. Der Film hat geheissen: «Der verzauberte Prinz». Da waren sehr viel Truckagen (Truquage = franz.: Schwindel). Ein Mädchen hat geträumt von einem Prinzen auf einem Bild, das bei ihr - ein riesengrosses Bild - an der Wand hängt. Und in ihren Träumen ist er lebendig geworden, ist aus dem Rahmen rausgestiegen, und dann hat er mit ihr verschiedenste Abenteuer gemacht, hauptsächlich Liebesabenteuer, inklusive Schmusen.

     Damals gab es selbstverständlich noch keine Truckage-Apparate, wo man nämlich diese Aufnahmen separat machen und dann durch diese Trucka-Maschine zu einer einzigen Aufnahme verbinden kann. Man musste also alles in der Filmkamera drin machen. Ich habe lange probieren müssen, ausrechnen, Zeichen machen und so weiter. Aber dieser Trick, dass der Prinz lebendig wird und raussteigt aus dem Bild, ist mir hundertprozentig gelungen. Nach diesem Film habe ich sogar eine Prämie von hundert Rubel für die gute Fotografie bekommen. Das waren damals ungefähr vierhundert Deutsche Mark. Ich habe gesagt: «Hundert Rubel brauche ich nicht, aber ich möchte die Wechsel für vierhundert Mark und dann fahre ich nach Berlin und werde mich ein bisschen im deutschen Film umsehen.» Das hat man mir bewilligt, ich bin nach Berlin. Ich habe dort fast nichts gegessen, sondern das Geld aufgespart für Kinobesuche, manchmal sogar zweimal am Tag, technische Literatur gekauft, Filmjournale abonniert und so weiter. Ich habe Filmstudios besucht, Filmlabors besucht, überall geschnüffelt, wo ich nur konnte.

     An und für sich lebt mein Grossvater seit über dreissig Jahren mit seiner Lebensgefährtin Herta B. in München, wo er aber nie eine Niederlassungsbewilligung erhielt. Deshalb ist er offiziell in Ennetbaden (Wohnsitz meiner Mutter) niedergelassener Ausländer und muss alle drei Monate die Grenze passieren. Und auch für Arztbesuche und Spitalaufenthalte kommt er immer in die Schweiz. In den letzten Jahren war er oft zu längeren Spitalaufenthalten in Zürich und Baden gezwungen.

     Schon in meiner Jugend haben mich die Erzählungen von Deduschka, was auf russisch Grossvater bedeutet, fasziniert. Er war viel unterwegs, seine Filmarbeiten brachten ihn in die verschiedensten Länder. Nur alle paar Monate liess er sich bei uns blicken. Manchmal brachte er glamouröse Kostüme von irgendeinem Film für meine Mutter und mich mit, wenn er uns besuchen kam. Babuschka, meine Grossmutter, sprach von ihm nur selten, und ihre leidvollen Seufzer verstand ich damals noch nicht.

     Ein Boheme sei er gewesen, kann man im Buch «Geschichte des Schweizer Films» von Herve Dumont nachlesen. Dass er ihr durch seinen Lebens-wandel das Herz gebrochen hat, wurde mir später klar. Neugierig machten mich auch Andeutungen meiner Eltern, die ich als Jugendliche mitkriegte, früher habe er, ein Meister seines Fachs, grossartige Filme fotografiert, später jedoch nur noch Schundproduziert. Gesehen habe ich bis heute keinen dieser Streifen, die im Fernsehen zu später Stunde noch heute ausgestrahlt werden und im Programmheft mit «Erotik-Film» bezeichnet sind. Mein Grossvater selber hat in keinem seiner Gespräche mit mir auch nur andeutungsweise zu verstehen gegeben, er halte diese Filme für minderwertig. Im Gegenteil: Seine Arbeit stellte er grundsätzlich nie in Frage, sondern freute sich immer darüber, dass ihm so vieles gelungen war und er damit grossen Erfolg hatte.

     Im Spätsommer 1992 ging es Deduschka gesundheitlich schon ziemlich schlecht – 1981 hatte man ihm wegen eines Melanoms (Hautkrebs) einen halben Fuss amputiert-, und er kam für längere Zeit ins Kantonsspital Baden. Seine Fersen warm ganz offen, und er konnte nur noch mit dem Stock ein paar mühsame Schritte gehen. Die Wunden heilten so schlecht, weil er schon lange an Diabetes litt. In der Zeit zwischen August und Ende Oktober führten wir mehrere Gespräche, die ich auf Tonband aufnahm. Manchmal bekam ich eine Geschichte fast wortwörtlich beim nächsten Besuch noch einmal zu hören. Manchmal verstand er auch schlicht meine Fragen nicht, weil sein Gehör immer mehr nachliess. Und manchmal war er sehr müde und unkonzentriert – wahrscheinlich aufgrund der starken Medikamente.

     Die Gespräche habe ich in diesem ganz charakteristischen Dialekt, den er sprach, belassen. Er sprach (mit einer eigenwilligen Intonation undSatzdramaturgie) gut deutsch. Die «Fehler» fand ich immer sehr reizvoll: «Ich habe es erlebt die russische Revolution», sagte er beispielsweise. Oder er verwendete durchs Band «weil» an Stelle von «denn».


     Als ich in die Elektrotechnische Hochschule eintreten wollte, gab's eine Schwierigkeit. Ich war nämlich noch zu Jung. Also, ohne lange zu überlegen, habe ich in meinen Ausweispapieren mir vier Jahre dazugegeben, damit ich wieder auf ein Schaltjahr komme, weil ich ja am Schalttag geboren wurde. Das hab' ich selber gemacht, ziemlich primitiv, aber das hat mich damals weniger interessiert. Es gab ein Eintrittsexamen, das war wirklich sehr schwer, aber ich habe es bestanden.

     Du bist also 1904 geboren und hast in deinen Ausweisen aus 1904 die Zahl 1900 gemacht?

     Jawohl, genau, ha, ha ... Nach dem Studium wurde ich in der Filmfabrik auf der Stelle engagiert. Nach kurzer Zeit sagte der Direktor der Lenfilm von Sovkino zu mir: «Genosse, wir haben aus deinen Unterlagen ersehen, dass du Deutsch nicht nur sprichst, sondern auch lesen und schreiben kannst.» - Wir haben ja deutsch gesprochen zu Hause, weil Papa hatte damals eine Gouvernante engagiert, Isa. Zwei Jahre nach dem Tod der Mutter haben Papa und Isa geheiratet. Und da hab' ich zwei Halbschwestern, die eine ist Sina, die andere ist Larissa.

     War Isa denn eine Deutsche?

     Nein, Isa war eine Estin aus Riga. Das gehörte damals zu Russiand. Jetzt machen die sich selbständig.

     Erzähl mir mehr von deiner Filmerei. Bei welchem Film hast du mit dem Eisenstein zusammengearbeitet?

     Ich bin von Sovkino freigestellt worden für seinen Film, seinen grössten, der hiess «0ktober» («0ktjabr», 1927). Eduard Tisse leitete eine Gruppe, Grigori Alexandrow hatte auch eine Gruppe, und ich leitete mit Eisenstein eine Gruppe. Ich habe da beispielsweise die Aufnahmen vom Sturm auf den Winterpalast gemacht. Im Studio haben Eisenstein und ich dann das Material ausgesucht, das gute, und da hab' ich mit ihm am Schneidetisch gesessen, und wir haben das zusammengeschnitten. Er hat ja eine goldene Wahrheit gesagt. Er hat gesagt, dass die Montage ist die Hälfte von der Regie. Mit der Montage kann man einen Film töten, oder man kann ihn sich sehr lebendig und interessant entwickeln lassen. Eisenstein war damals schon eine Koriphäe, das war nach «Panzerkreuzer Potemkin».

     Erinnerst du dich, welches dein erster grosser Spielfilm war?

     Ja, ich erinnere mich. Vorigesjahr, oder vorvoriges, kam ein sowjetrussischer Regisseur nach Düsseldorf, der hiess Leonid Trauberg. Ich habe seinerzeit mit seinem jüngeren Bruder, Ilja Trauberg, gemacht den Film, der Welterfolg hatte und liegt in allen Cine'matheken: «Der blaue Express». Leonid Trauberg hat mir noch ein Plakat dieses Filmes mitgebracht. Da heisst es: «Kamera: Georgi Stylianoudi» - da fehlt dass.

     Im «Filmführer» von Dieter Krusche heisst es zum Film «Der blaue Express – Goluboi express» (UdSSR, 1929): "Ein kraftvoller Film von llja Trauberg. Bestimmte Szenen (sind) möglicherweise von Eisenstein beeinflusst, dessen Regieassistmt Trauberg bei dem Film «0ktjabr» war».

     Mit Ilja Trauberg hab' ich vorher schon den Film «Bezaubernder Prinz» gemacht. Für den hab' ich eine Auszeichnung erhalten. Das war nämlich so: Bei «Bezaubernder Prinz», da hab' ich eine Trick-Aufnahme gemacht, ohne Trucka-Maschine. Aus einem Plakat steigt ein lebendiger Prinz. Das war damals eine Sensation.

     Ja, davon hast du mir schon erzählt. Und welches war dein erster Film im Ausland?

     Meinen ersten deutschen Film hab' ich gedreht in Berlin, und der hiess, Moment, was mit Blut. Na, das kommt mir schon in den Sinn ...

     1928/29 kam er nach Berlin, arbeitete in Berlin und später in Paris mit Ruttmann, Trivas, Litvak, Pabst, Ophtils und Kirsanov. 1931 filmte er für die Praesens-Film Zürich-Berlin «Feind im Blut» (Regie: Walter Ruttmann), einen Aufklärungsfilm über Geschlechtskrankheiten und zugleich den ersten Sprechfilm dieser Schweizer Produktionsgesellschaft. Das war sein erster «Schweizer Kontakt».

     Warum bist du denn von Russland weg?

     Da muss ich zurückgreifen. 1930 habe ich mit dem Regisseur Erofeef einen Dokumentarfilm über Deutschland für Sovkino gedreht. Man hatte mich ausgewählt, weil ich grosse Erfahrung von den « Wochenschau»-Aufnahmen her hatte, und ausser mir hat ja kein Mensch deutsch gesprochen. Wir sind mit einem gekauften Auto über 6000 Kilometer durch ganz Deutschland gefahren. Es wurde ein interessanter Film, weil damals bekam man keine Informationen über Deutschland oder das Ausland. In Russland fand der Film «Zum glücklichen Hafen» sehr grosse Beachtung. Ich sparte damals 1000 DM und liess das Geld auf einer Bank in Berlin. Und mit diesem Geld habe ich später die Flitterwochen mit Vera (seine Frau, Vera Stylianoudis-Bukina) finanziert. Das Geld in einem Monat loszuwerden war sehr schwer. Heute wären das ungefähr 30 000 DM.

     Knapp eine Woche vor meiner Rückreise mit Vera in die UdSSR rief mich Alexander Lagorio an und sagte, ein Schweizer Verleiher, Herr Wechsler, wolle einen Film mit Ruttmann machen. Herr Wechsler habe «Der blaue Express» gesehen und finde dies die schönste Fotografie, die er je gesehen habe. Lagorio sagte zu Wechsler: «Sie haben Glück, der Kameramann vom «Blauen Express» ist zufällig gerade in Berlin». Am nächsten Tag haben Lazar Wechsler und ich miteinander gesprochen und uns geeinigt. Ich habe sofort in Leningrad um einen einjährigen Urlaub gebeten, zwecks Erlernung des Tonfilms, und das hat man mir bewilligt. Wir haben dann diesen Film («Feind im Blut») gemacht.

     Damals gab es in Berlin nur fünf Tontische und vier Cutter. An dem fünften Tisch hat Ruttmann dann seinen Film «Berlin - Sinfonie einer Grossstadt» geschnitten. Rutt- mann war ein ausgezeichneter Cutter. Dann begann er aber zu trinken. Eine Flasche in ein paar Stunden. Resultat: Eines Tages fiel er mit Alkoholvergiftung unter den Tisch. Der Produzent war völlig verzweifelt, weil es gab keinen freien Cutter in ganz Berlin. Ich hab mich darauf anerboten, den Film zu Ende zu schneiden. Die Kleberin Pukalka hat grosse Augen gemacht, weil ich den Ton nur einmal durchgelassen habe und dann nur nach Zeichen, ohne noch einmal zu hören, geschnitten habe.

     Jetzt muss ich erzählen, woher ich das konnte: Einmal, ungefähr 1927, kam ein kleiner Mann, Professor Schorin, ins Studio der Sovkino und hat um einen Kameramann gebeten, der einen geheimen Filmauftrag ohne Drehbuch durchführen kann. Die Wahl der Direktion fiel auf mich. Wir fuhren dann zum Fluss Neva in Begleitung mehrerer schwarzer Limousinen vom GPU, das war der Geheimdienst. Professor Schorin führte seine Erfindung vor: Es war ein ferngesteuertes Boot. Auf Knopfdruck legte das Boot ab, blieb stehen, hievte eine Fahne, schoss aus einer Kanone und so weiter.

     Ich habe das gedreht, und als der Professor anlässlich des Filmschnittes ins Studio kam, habe ich gesagt: «Das wäre doch für Sie ein leichtes, ein Tonaufzeichnungsgerät zu konstruieren.» Er antwortet mit einem Lächeln: «Klar, das ist einfach, aber ich habe keine freien Leute.» Ich sagte, dass mein Bruder Elektroingenieur ist, zwar auf Starkstrom, aber das Umlernen auf Schwachstrom sei in höchstens zwei Wochen zu schaffen. Am nächsten Tag war mein Bruder bei dem Professor, ich habe in der Filmfabrik einen Filmapparat erbettelt, und der Professor hat tatsachlich in zwei Tagen alle Plane, Schemen der Schaltung und so fort auf den Tisch gelegt. Etwa einen Monat später war die Apparatur fertig, dazu war auch ein Tonabnehmer für den Vorführungsapparat gebaut. Wir gingen in den Lunapark und filmten das Orchester. Es spielte den «Persischen Markt»: tatata taaa, tatata taaa...

     Am nächsten Tag war alles entwickelt und kopiert. Bild und Ton waren zusammen auf einem Negativ, also war zwangsläufig alles synchron. Das Studio war bumsvoll. Schon beim ersten Bild brach ohrenbetäubender Applaus aus. Nach der Vorführung hielt ich eine kleine Ansprache und nannte Schorin den «Vater des sowjetischen Tonfilms». Aber ich war es ja, der ihn mit der Nase darauf gestossen hatte...

     Von falscher Bescheidenheit hast du, seit ich mich erinnern kann, nie etwas gehalten. Auf viele deiner Taten und Erfolge warst du stolz, und du hast keinen Grund gesehen, sie zu verschweigen. Wieviel davon Übertreibung war, kann ich nicht beurteilen. Überheblich gewirkt hast du auf mich trotzdem nie.

     Also zurück zu dem Film «Berlin - Sinfonie einer Grossstadt» von Ruttmann. Ich arbeitete sechs Wochen an der Synchronisation. Der Komponist machte mir Komplimente, dass alle Musikabschnitte so gut in der Länge zum Bild passten. Das habe ich bei Eisenstein gelernt. Der schnitt seine Stummfilme mit Metronom, um den Rhythmus zu behalten. Und ich machte das auch so. Mein nächster Film in Berlin war dann «Niemandsland» (1931, Regie: Victor Trivas). Ich war Kameramann und habe den Film auch geschnitten.

     Von Berlin aus bin ich sehr viel gereist und habe viel gedreht; in Italien, Paris, der Türkei und Ägypten. Nach dem Film «Insel der Dämonen» (Bali-Film von Dr. Dahlsheim) rief mich Trivas von Paris an und fragte, ob ich nach Paris käme für seinen Film «Dans les rues» mit Jean-Pierre Aumont in der Hauptrolle. Ich erwiderte: «In Frankreich kann man nicht ohne CGT (Gewerkschaft) arbeiten.» Aber Trivas machte ein Gesetz ausfindig, das Regisseuren einen Assistenten erlaubte, egal welcher Nationalität, ohne CGT. Ich akzeptierte unter der Bedingung, dass ich den Film auch schneiden kann. Bis Ende des Films konnte ich schon französisch sprechen.

     Vera ist in Berlin geblieben, und ich habe jeden zweiten, dritten Tag telefoniert. Einmal, das war anfangs 33, hat sie mir gesagt: «Es geht hier schlecht.» Sie war ins Restaurant gegangen und sie hat ja kein deutsch gesprochen. Die Leute hatten gesungen, und sie war nicht aufgestanden und wurde angepöbelt. Das war das Horst-Wessel-Lied. Ich habe gesagt: «Du, komm sofort hierher», und sie hat gepackt und ist nach Paris gekommen.

     Aber ohne Arbeitsbewilligung war es unmöglich, in den Pariser Studios Arbeit zu bekommen. In Kopenhagen konnte er dann den Film «Paulos Brautfahrt» (1934) schneiden. Darauf bewarb er sich in Paris erfolgreich für Aufnahmen, die im Ausland gedreht wurden. Für Anatol Litvak konnte er die Aussenaufnahmen für «Meierling» (1936) machen. Bei «Les freres corses» von Robert Siodmak (1938) konnte er die Kamera ganz übernehmen, weil auf Korsika gedreht wurde. Es folgten «Werther» von Max Ophiils (1938), «Chemin de Rio» mit Jules Berry, dann konnte er in Istanbul für Pabst Szenen zu «Esclave blanche» (1939) filmen. Sein letzter Film in Paris war «Quartier sans soleil» mit dem Regisseur Kirsanov.

     In Paris hat mir einmal ein Profi gesagt... das war der Wie-hiess-er-doch, der Mann von Jean Harlow, dieser Blondine, er war sicher zehn Jahre älter als ich... und er hat gesagt: «Junger Mann, bis Sie Leute fotografieren können - und besonders Frauen – vergehen zehn Jahre.» Und er hatte recht. Um die «Geographie» von jedem Gesicht auszuleuchten, muss man nämlich spezielle Tricks haben. Und die hab' ich gelernt. Zum Beispiel haben wir direkt vorne an die Kamera eine kleine 500-Watt-Lampe angebracht. Dieses Licht hat einen hellen Punkt in die Augen gesetzt, und die Augen wurden dadurch sofort lebendig.

     Bitte erzähl mir doch noch, wie du die Babuschka (meine Grossmutter, seine Frau Vera) kennengelernt hast.

     Das war so. Wir haben einen Zirkusfilm gedreht, und da sass in der obersten Zuschauerreihe eine junge Frau mit dicken, langen Zöpfen, und die ist plötzlich aufgesprungen. Ich hab' zum Kameraassistenten gesagt: «Was ist das für eine Zicke, die da rumspringt?» Und mein Assistent hat gesagt: «Du musst nicht so abschätzig reden. Das sind Studenten von der Kinotechnischen Hochschule, und die machen ihre Praxis im Filmstudio. Aber mach dir keine Hoffnungen bei der, das ist die grosse Uneroberte von Leningrad." Ich habe gesagt: «Nun, das wird man sehen.»

     Einmal hab' ich sie nach Hause begleitet, und dann kam sie nicht mehr ins Studio. Sie ist nämlich, weil da Eis auf dem Hinterhof lag, ausgerutscht und hat sich den Knöchel ausgerenkt. Ich habe sie besucht und gesagt: «Siehst du, hätte ich dich bis an die Haustür begleiten dürfen, wäre das nicht passiert.» Dann musste ich für einen Monat nach Krim, um einen Film zu drehen, und während dieser Zeit haben sich zwei Kameraleute an sie herangemacht. Und selbstverständlich hab' ich gezittert, die Burschen waren ja sehr gutaussehend, aus angesehenen Familien und in gleicher Position wie ich. Später hat sich rausgestellt, dass sie ihr wahnsinnig den Hof gemacht haben, aber erfolglos. Obwohl wir noch nicht miteinander geschlafen hatten, war sie mir treu. Du siehst, obwohl ich viele Mädchen hatte, war ich doch ein sittlicher Knabe.

     Deduschka, welch ein Frauenbild, da geht's ja nur um die «Beute»! Eines ist ganz sicher: Mein Grossvater war ein Draufgänger, aber einer mit viel Charme, ein Don Juan der galanten Schule. Das Abenteuer Frau lockte ihn ganz offensichtlich immer wieder. Ich selber realisierte das allerdings erst spät. Aber ich erinnere mich gut an die kummerschweren Seufzer meiner Babuschka und, als ich ins Pubertätsalter kam, ihre sorgenvollen Warnungen vor Schürzenjägern. Dass sie damit auf meinen Grossvater Bezug nahm, war mir damals nicht klar.

     Na gut, also, so verging der Monat in vollem Zittern, aber schlussendlich hab' ich doch erreicht, dass ich mit ihr geschlafen habe.

     Bevor ihr geheiratet habt?

     Ja, ja. Aber sehr massig. Nach dem ersten Mal wollte sie mich eine ganze Woche nicht sehen, weil ich mir das erlaubt hatte und sie war auch ärgerlich, dass sie selber es zugelassen hatte. Damals waren ganz andere Sitten als heute. Dann hab' ich ihr geschrieben, dass ich heiraten will, wenn sie will. Aber ich will richtig heiraten, «richtig» hab' ich unterstrichen. Das heisst, ich will kirchlich heiraten. Und das hat ihre Mutter in die Knie gezwungen, dass ich, mit kommunistischer Arbeit. - ich war zwar nicht Kommunist, aber da waren viele Kommunisten in der Filmfabrik -kirchlich heiraten will. Bei den Kommunisten war die Kirche verpönt.

     Wir haben geheiratet. Und sie ist zu uns gezogen. Wir hatten ja noch unsere alte Sechszimmerwohnung, da wohnte der Vater mit Isa und beide Brüder. Und da hatte er offiziell ein Zimmer.

     Wer hatte ein Zimmer?

     Mein Freund. Jede Person musste ja ein Zimmer nachweisen können, man durfte auch nicht mehr als ein Zimmer haben, aber eines musste man haben. Wenn wir unser Zimmer nicht selber vermietet hätten, dann wäre es vom Wohnungsamt einfach abgegeben worden an irgend jemanden. Also, dann haben wir mit dem Freund den Tausch gemacht und Vera ist zu uns gezogen. Da hatte sie offiziell ein Zimmer, und ich hatte offiziell ein Zimmer. Eines war unser Schlafzimmer, und eines war das Arbeitszimmer.

     Aber jetzt wieder zurück nach Paris. In Paris ist Svetic (seine Tochter) geboren, das war 1934. Ich habe dann - kann ruhig sagen, mit meinem Scharfsinn - kalkuliert, dass die Deutschen nach Paris kommen. Zwei Monate nach Kriegsanfang sind wir nach Rom gegangen. Wir mussten die Wohnung aufgeben, und ich hab' meine Möbel der Concierge in Paris geschenkt. Wir haben nur mitgenommen folgende Sachen: das Kinderbett und grüne Kaffeebohnen. Aber ich habe mich verrechnet und nicht gedacht, dass der Hitler den Mussolini um den Finger wickelt.

     In Rom fühlte ich mich schon, durch verschiedene frühere Produktionen, wie zu Hause. Wir hatten eine Zweizimmerwohnung in der Via Veneto. Ich habe dann gerade gedreht in einem altem Theater in Livorno, das war ein Kostümfilm (vermutlich «Giu il separio» von Matarazzo).

     Einmal, abends, bekam ich ein Telefon während der Arbeitszeit: «Hier Doktor Stefan Markus. Ich bin in Zürich. Wollen Sie kommen, hierher nach Zürich, und einen Film drehen?» Mit Doktor Markus habe ich schon in Paris verschiedene Filme gemacht. Aber ich weiss bis heute nicht, wie der mich in Rom gefunden hat. Ich habe gesagt: «Ich komme sehr gerne, aber Sie müssen mir ein Visum besorgen.» Und tatsachlich, nach drei Tagen war das Visum da.

     In der Schweiz habe ich dann mit Markus, er war ein Schweizer Jude, zwei Monate um das Visum für Frau und Kind gekämpft. Ich selber bin am 5. Mai 1940 in die Schweiz gekommen und am 10. Mai haben die Deutschen Rotterdam überfallen. Darauf haben ja die Schweizer die Grenzen hermetisch abgeriegelt. Nach zwei Monaten bekam ich endlich die Visa. Vera und Svetic waren die einzigen Passagiere im Zug von Rom in die Schweiz. Wir hatten tatsächlich mehr Glück als Verstand...

     Damals waren die russischen Filmfachleute sehr begehrt. Ich kam also in die Schweiz und sah, dass alles fehlte: Negative, Kamera, Lampen, Birnen, nichts war vorhanden, ich musste alles mir beschaffen in Berlin. Dann haben wir den Film «Ledige Mütter – Dilemma» (1940) gedreht.

     Für seinen ersten in der Schweiz gedrehten Film («Dilemma») hatte mein Grossvater aber anscheindend keine Arbeitsgenehmigung, was die Behörden, als sie es herausfanden, erboste. Der Autor Herve Dumont («Geschichte des Schweizer Films») weiss zu berichten: «Aus Paris bringt er (Markus) seinen Ausstatter, seinen Aufnahmeleiter und den bekannten griechisch-russischen Kamermann Stilly mit, der gerade zwischen Kairo, Nizza und Cinecitta pendelt; zwielichtige Boheme also, was seinen gespannten Beziehungen zur Fremdenpolizei nicht gerade förderlich ist...

     Seine (Stillys) illegale Mitarbeit an «Dilemma» wird manchmal zugunsten des Zürcher Kameramanns Harry Ringger schweigend übergangen. Stilly sollte durch seinen besonderen Stil und seinen Werdegang verschiedene Kameraleute beeinflussen, und dies bis in die fünfziger Jahre, als er an der Seite von Kurt Früh arbeitete. In Westeuropa gilt er als unvergleichlicher Spezialist für Aussenaufnah- men.»


     Also, dann haben wir angefangen. Die Hauptrolle, den Vater, hat gespielt: Leopold Biberti. Das Mädchen, Marina Rainer, war ganz neu, und der junge Mann war Lukas Ammann, das war sein erster grosser Film. « Die ledigen Mütter - Dilemma» hatte wahnsinnigen Erfolg, weil es der erste Spielfilm war, der in Dialekt gedreht wurde. Die Filme in Dialekt in filmtechnisch so unterentwickelten Ländern haben immer sehr grossen Erfolg. Die Leute wollten unbedingt Dialekt hören. Ich habe festgestellt, als ich 1934 meinen ersten ägyptischen Film gedreht habe, dass einige Ägypter sich den Film sieben Mal angesehen haben.

     Hast du eigentlich während des zweiten Weltkrieges, als du Filme gemacht hast, auch darauf geachtet, dass der Inhalt politisch für dich stimmt?

     Nein, nicht eigentlich.

     Und du bist nie einer politischen Partei beigetreten?

     Nein...

     Warum nicht?

     Nun, das hat mich nicht so interessiert... Zurück nach Zürich. Da war eine kleine Episode, die will ich dir erzählen: Es hat geklingelt, sehr früh, so früh, dass ich war noch im Pyjama. Ich öffne die Tür, und da steht ein Polizist in vollem Ornat, Revolver, alles. Ich habe nicht gesagt: guten Tag oder Bonjour, sondern ich habe gesagt: «Was hab' ich verbrochen?» Er hat gelächelt und gesagt: «Sie haben nichts verbrochen. Aber Sie haben eine Tochter. Die Tochter muss in die Schule.» Ich habe gesagt: «Sie spricht russisch, französisch und jetzt, nach zweieinhalb Monaten Aufenthalt in Italien, auch ein bisschen italienisch. Aber sie spricht kein Schweizerdeutsch.» Und da sagt der Polizist: «Das wird sie scho no leeerä». Ich habe mein ganzes Leben nie vergessen den Ausdruck «leeerä». Na, gut... Nach «Dilemma» kam der grosse Spielfilm «Polizischt Wäckerli».

     Aber du hast doch vorher auch noch Dokumentarfilme gedreht...

     Ja, aber ich erinnere mich nicht mehr an die Namen. Ich habe gemacht die ... hun- dertfach sozusagen. Einer, der mir geblieben ist, das war ein Lehrfilm für die Holzgewerkschaft. Weil das für die Gewerkschaft war, hab' ich sehr schnell eine Bewilligung gekriegt.

     Eine Arbeitsbewilligung zu erhalten war damals für Ausländer schwierig. So wurde beispielsweise Stillys Mitarbeit an «Bider, der Flieger» (1941) geheimgehalten. Aus der «Geschichte des Schweizer Films» von Dumont (leicht gekürzt): «Die Handlung spielt in der Schweiz, Deutschland, in Frankreich und in Italien. Aufgeschreckt verlangt die Fremdenpolizei kategorisch einen Schweizer Regisseur; Heuberger und Schnyder sind beschäftigt. Haller lehnt ab. Werner Lenz bietet seine Dienste an, aber er hat noch nie eine Kamera gehandhabt. Die Lösung der eigentlich kinematografischen Fragen überträgt Schwenk (Produzent) heimlich einer Drittperson: Den Behörden zum Trotz übernimmt Stilly die ganze Sequenzeinteilung, die Produktionsleitung (für die Schwenk zeichnet), einen Teil der Kameraarbeit und den Schnitt. Diese heimliche Übernahme erklärt das kraftvolle Abheben des Films mit Bildern, für die man in andern zeitgenössischen helvetischen Produkten vergeblich eine Entsprechung sucht.» In deinen Unterlagen habe ich einen eingeschriebenen Brief der Fremdenpolizei des Kantons Zürich gefunden, datiert vom 10. April 1941. Darin heisst es (ohne Anrede und ohne freundliche Grüsse):

     «Es ist Ihnen bekannt, dass Sie als kontrollpflichtiger Ausländer jeweils einer besonderen fremdenpolizeilichen Bewilligung bedürfen, wenn Sie von einem schweizerischen Filmproduzenten zur Mitwirkung herangezogen werden. Dadurch, dass Sie im Jahrbuch der Schweizer Filmindustrie als Filmschaffender verzeichnet sind, erwecken Sie den Eindruck, Sie seien jederzeit verfügbar und könnten innerhalb der schweizerischen Filmproduktionfrei arbeiten. Diese Art von Reklame eines unterfremdenpolizeilicher Kontrolle stehenden Ausländers ist, vom arbeitsmarktlichen Standpunkt aus betrachtet, unzulässig. Wir ersuchen Sie daher, diese Art Reklame zu unterlassen.»

     Aber von solchen Problemen, Deduschka, hast du mir nie etwas erzählt. Schwierigkeiten in deinem Leben hast du am liebsten weggesteckt, schnell verdrängt oder gar nicht erst wahrgenommen. Das war deine Methode, und du warst immer zufrieden damit. Ich weiss aber, dass ihr während des Krieges sehr schwierige Zeiten durchgemacht habt. Du hast in Zürich sogar zeitweise als Kürschner gearbeitet, vermutlich schwarz, um zu Geld zu kommen. Und du bist stundenlang zu Fussgelaufen, um dich für eine Stelle zu bewerben, well du kein Geld fürs Tram und den Zug hattest.


     September 1992: Ehrlich gesagt, mein Gedächtnis hat so nachgelassen, dass ich mich anstrengen muss, noch an irgendeinen Namen mich zu erinnern.

     Erzähl einfach mal, die Namen linden wir dann schon heraus. Erinnerst du dich an den Film «Polizischt Wackerli»?

     Der war sehr bekannt, weil da spielte dieser Volksschauspieler, wie hiess er... Schaggi Streuli. Er sass immer mit einem Schoppen Wein da. Ich hab' ihn gefragt: «Sag mal bitte, warum bestellst du nicht gleich einen halben Liter.» Und er hat gesagt: «Das hat schon seinen Grund. Wenn ich nämlich schoppenweise trinke, dann kann kein Mensch wissen, wieviel ich getrunken habe.»

     Nach «Polizischt Wackerli» drehten wir gleich anschliessend «Bäckerei Zürrer», dann «Oberstadtgasse». Für mich waren das normale Filme, sogar supernormal. Atelier war keines da, und deshalb musste man - nolens, volens - alle Objekte und Dekorationen in Natura drehen. Die Aussenaufnahmen sind in Zürich gedreht worden. An den Inhalt der Filme erinnere ich mich überhaupt nicht... überhaupt nicht.

     Erinnerst du dich noch an andere Schauspieler in deinen Schweizer Filmen?

     Nein, überhaupt nicht... Also an den Emil Hegetschweiler erinnere ich mich. Der war damals schon ein alter Mann, weisshaarig, sehr bekannt. Der hat den Bäcker Zürrer gespielt. Und die Margrit Rainer hat auch irgendwo mitgespielt, mit dem Ruedi Walter. Und der Regisseur war Kurt Früh.

     Aber an den erinnerst du dich sicher noch?

     Ja klar, mit dem hab' ich drei Filme hintereinander gedreht.

     Und wie war die Zusammenarbeit?

     Nu, Zusammenarbeit mit mir war in allen Filmen sehr gut, weil ich eben sehr adaptive und diplomatisch bin. Und auf alle Fälle war es immer so, dass ich der Hauptfilmmann war. Ich hatte ja damals schon zwanzigjahre Erfahrung im Film. Und der Regisseur... die waren damals alle sozusagen neu. Ich habe ja alles gemacht, nicht nur Kamera oder Licht, ich habe die Filme filmerisch gestaltet. Unter uns gesagt, ich habe ja auch halb Regie geführt. Den Filmschnitt, die Synchronisation, alles hab' ich gemacht.

     Der bekannte Regisseur Kurt Früh allerdings erwähnt den Namen Stilly in seinem Büchlein «Rückblenden» (Pendo-Verlag) nur gerade einmal: «Mein Kameramann Stilly pflegte zu sagen: «Film ist Mathematik. Jede überflüssige Szene ist hinausgeschmissenes Geld». Über dessen künstlerische Qualitäten schweigt er sich aus.

     Dann kam noch ein Film - der ist aber ganz flach herausgekommen. Der hiess «Hast noch der Söhne ja». Ich hab' vom ersten Tag, wo ich das Drehbuch gelesen habe, gesagt: «Das ist nichts für einen Film. Ausser dass er schweizerisch ist, hat er keine Elemente für einen guten Film.»

     Bei diesem Film habe ich eine filmtechnische Neuheit eingeführt: Das erste Mal in meinem Filmleben - in der Schweiz gab's das sowieso noch nie - habe ich von einer Nahaufnahme bis zur Totale in einer einzigen Einstellung gedreht. Ich bin von der Grossaufnahme, ganz nah auf dem Gesicht der Schauspielerin, weggefahren, bis der Ganze Bellevueplatz erfasst war. Das habe ich so gemacht: Ich habe mir ein Feuerwehrauto mit einer riesigen Leiter besorgt, die beweglich ist nach allen Seiten. Zuvorderst war eine Kabine. Da kam die Kamera und der Kameramann hinein. Der Assistent hatte keinen Platz. Einen Assistenten brauchte man damals, weil der musste die Schärfe mitziehen. Das musste ich in diesem Fall selber machen. Ich bin also in diesem Korb dringesessen mit der Kamera. Die Leiter wurde zuerst nach oben und dann zurückgekurbelt, und am Schluss ist noch der Feuerwehrwagen zurückgefahren, bis ich den ganzen Bellevueplatz erfasst hatte. Das war damals filmtechnisch eine Sensation.

     Und das war allein deine Idee?

     Ja, Idee und Ausführung. Ich habe zweimal grosse filmtechnische Sensationen gehabt. Das erste Mai war in «Niemandsland» mit Victor Trivas.

     Und was war da die filmtechnische Sensation?

     Nun, «Niemandsland» (1931) war der erste Film von Trivas, der ein Welterfolg geworden ist. Da war eine Episode: Bei der Premiere, gerade nach dem Ende des ersten Aktes, hat jemand geschrien im Saal. Da haben nämlich die Nazis weisse Mäuse rausgelassen im Saal, weil das ein Antikriegsfilm war, haben auf ihre - für meine Begriffe dumme - Art und Weise protestiert gegen diesen Film. Die Polizei kam, man hat den Saal geleert und gesagt, dass die Karten sind eine ganze Woche gültig. Aber viele haben ihre Billete weggeworfen. Der Film hatte wahnsinnigen Erfolg. Und heute ist er in der Cinemathek Lausanne und in Paris und im Museum of Modem Art in New York.

     Aus dem «Filmführer» von Dieter Krusche: «Niemandsland» ist einer der wenigen pazifistischen Filme, die in der Weimarer Republik gedreht wurden; nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde er bald verboten.

     Aber was war denn nun diese filmtechnische Spezialität, die du da eingebaut hast?

     Ja, da hab' ich sogar geweint in der Diskussion mit Trivas. Im Film war ein Gespräch ... Das Thema ist doch, dass da fünf verschiedene Leute in so einem Loch zwischen den Fronten gesessen sind, ein Engländer, ein Deutscher, ein Franzose, ein russischer Jude und ein Italiener. Die alle fünf sassen also zusammen und redeten darüber, dass Krieg ist Unsinn. Ich habe die Kamera so gestellt, dass ich zwei Profilie praktisch hintereinander im Bild hatte, von zweien, die miteinander gesprochen haben. Mit dem langbrennweitigen Objektiv, 75 Millimeter, hab' ich den ersten im Bild gehabt und dann den zweiten, als er zu sprechen begann, nur mit der Schärfe geholt. Und der andere ist dann ganz verschwommen. Und wenn ich dann auf den ersten wieder scharf stelle, zerlegt sich der andere in Unschärfe. Und darüber war diese Diskussion mit Trivas. Trivas wollte das nicht. Er fand das sehr ungewöhnlich und meinte, das Publikum würde das nicht verstehen und pfeifen, wenn einer wird plötzlich unscharf. Aber - das war hundertprozentig akzeptiert, und in einigen Kritiken war das auch speziell erwähnt.

     Damals hatte das Publikum also die Sehgewohnheit, dass alles immer scharf sein musste?

     Ja, das war damals so. Unscharfe war sehr ungewöhnlich.

     Magst du noch erzählen? Hast du Schmerzen?

     Nein, nein, ich fühle mich gut. Ich muss sagen, ich habe ein wahnsinnig bewegtes Leben gehabt, bin sehr viel gereist. Ich habe in der Türkei gedreht, in Madrid, in Rom, in Ceylon. Und in der Schweiz, ich erinnere mich gar nicht an alle Filme... Und ich habe mit sehr vielen bekannten Schauspielern gearbeitet: Danielle Darrieux, Maria Becker... Und mit vielen guten Regisseuren: Trauberg, Früh, Siodmak, das war der beste von allen. Aber ich habe mit allen sehr gem gearbeitet, weil ich hatte immer auch grossen Einfluss auf die Dreharbeiten, auf das Drehbuch, auf die Dramaturgie. Ich war immer sehr zufrieden.

     Deduschka, jetzt erzähl mir von deiner Zeit in München.

     Nach München bin ich gezogen - ich behaupte 62 und Herta behauptet, dass es 61 war. Wahrscheinlich hat sie das bessere Gedächtnis als ich. Ich habe also gedreht - immer für andere. Und dann war eine Pause. Und dann, in der Pause, hab' ich zum ersten Mal produziert. Das war «Die Kunst der Etrusker» in Zürich. Ich habe letzthin auf dem Dachboden eine nigelnagelneue Kopie von diesem Film gefunden. Den habe ich nicht nur selber gedreht, sondern auch selber finanziert. Klar, das war nicht mein Geld, sondern ich habe Geldgeber gefunden. Es war damals eine grosse Ausstellung über Etrusker in Zürich mit Exponaten aus der ganzen Welt, und ich habe eine Drehbewilligung bekommen. Das Material war sehr interessant. Ich habe eine spezielle elektrische Drehscheibe bauen lassen, so dass ich die Stücke draufstellen konnte. Auf Knopfdruck drehte sich das, schneller oder langsamer. Das ist sehr schön, wenn eines dreht - und dann ist die Überblendung - und jetzt kommt das andere dran Der Film lief im Kino Rex, am Anfang der Bahnhofstrasse in Zürich. Und der ist da gelaufen zwei Wochen im Abendprogramm und fast ein ganzes Jahr jeden Sonntag als Filmmatinee. Dann hab' ich Herta in München kennengelernt. Und Herta hatte eine phantastische Ähnlichkeit mit einem Porträt einer etruskischen Dame. Ich war einfach hin ...

     Also, und jetzt hab' ich gefunden eine nigelnagelneue 16-mm-Tonkopie. Die will ich dem Fernsehen verkaufen. Das ist mein einziges (Capital, was ich noch zu verkaufen habe. Auf alle Fälle hoffe ich, dass ich von der deutschen Version 25 000 bis 30 000 herausschlage. Wenn 20 000 bleiben, bin ich auch zufrieden, unter uns gesagt. Ich habe jetzt 1600 Rente. Und das reicht selbstverständlich nicht für eine Ferienreise nach Kalifornien, die ich noch einmal machen will. Ich will da den Doktor (Murmann) noch einmal sehen. So ist das.

     Ja, so ist das. Das sagst du, als ob es ganz selbstverständlich wäre, dass du noch reisen kannst. Dabei, Deduschka, bist du doch krank, todkrank, kannst fast nicht mehr gehen. Dennoch schmiedest du immer noch Pläne, hast immer noch etwas vor. Gedanken ans Sterben lässt du wahrscheinlich gar nicht aufkommen. Tief drin, so denke ich, weisst du trotzdem, dass deine Zeit bald kommt. Ich bewundere deine zähe Lebensgier und deinen unerschütterlichen Optimismus. Manchmal ist er mir aber auch unheimlich. Ich erinnere mich noch gut daran, wie du im Sommer 1982, als ich hochschwanger war, nach der Amputation deines Fusses zu mir gesagt hast: «Jetzt will ich noch nicht sterben. Ich will noch mein erstes Urenkelkind erleben.» Und dann hast du mir viele Tips gegeben, wie ich es anstellen müsse, damit es ganz sicher ein Bub wird. Ich habe gelacht, weil es für mich ganz egal war, Madchen oder Bub. Aber für dich war es ja enorm wichtig, einen Sohn zu haben. Als dieser geboren wurde, war ich selber gerade zweijährig. Und deine Frau wusste nichts von Koni, deinem unehelichen Sohn.

     Ich habe irgendwie Glück gehabt. Nicht nur beruflich. Auch mit Herta. Ich meine, finde doch heute mal ein unverheiratetes Paar, das 31 Jahre glücklich zusammenlebt. Früher hat ja deine Babuschka noch gelebt, also meine Frau. Und die wollte sich nicht scheiden lassen. Dabei war sie nie mit meinem Lebenswandel einverstanden, weil ich hatte sehr viele Abenteuer, viele Mädchen ... Wenn sie eingewilligt hätte, dann hätte ich mich scheiden lassen.

     Sag mal, wie hat denn Babuschka von Koni erfahren?

     Sie hat erst, als er vierjährig war (1962) erfahren, dass er da ist. Es war so: Ich habe damals in Chur einen Holzfilm gedreht. Konis Mutter war da Telefonistin. Ich hab' mich mit ihr befreundet, das ist klar... Und ich habe ihr erzählt, dass meine Frau jetzt keine Kinder mehr haben kann. Ich hab' gesagt: «Ich aber möchte noch Kinder. Ich möchte – heute nennt man das Leihmutter - ich möchte einer Frau 10 000 Franken zahlen, dass sie mir das Kind macht und abgibt.» Sie hat gesagt: «Weisst du was, du brauchst keine 10 000 zu bezahlen. Ich mache dir ein Kind.» Das war der Gipfel meiner Wünsche. Gut, gesagt, gemacht. Ich habe freiwillig die Vaterschaft anerkannt und immer bezahlt. Als Koni vier Jahre alt war, kam ich einmal von der Arbeit heim und war verschwitzt. Es war mein Fehler... Ich habe meine Frau gebeten: «Gib doch meine Jacke in die Reinigung, sie ist ganz verschwitzt.» Am Abend komm' ich nach Hause und sehe in der rechten Ecke über der Tür - da, wo die Ikone immer hängt - ist mit einem Reissnagel das kleine Passfoto von Koni angespiesst.

     Das war für Babuschka sicher sehr schlimm.

     Jaaa ... Jetzt erst versteh' ich, wie schlimm das für sie war. Nicht nur schnell-schnell so eine Liebhaberei, sondern mit Sohn.

     Was hat sie dann gemacht? Hat sie dich zur Wohnung rausgeschmissen?

     Nein, im Gegenteil. Ich habe meinen Koffer gepackt und bin nach München gefahren. Der Doktor, der hatte ja früher schon versucht, mich abzuwerben. Ich bin also zu Murmann und habe gesagt: «Jetzt bin ich frei, wollen sie mich noch haben?» Und er hat keine Sekunde gezaudert und gesagt: «Kommen Sie doch morgen vorbei.»

     In München wurde Georg Stilly Produktionschef bei der «Neuen Film Allianz». Unter seiner Mitwirkung wurde die Allianz 1964 an den «Europa Film-Ring», Hamburg, verkauft. Kurze Zeit später ging jedoch der EF-Ring Pleite, und auch die «Neue Film Allianz» musste Konkurs eröffnen. Darauf wurde er selbständiger Produzent. Seine Firma nannte er «Top-Film». Nach der Pleite der «Neuen Film Allianz» übernahm er die vorbereiteten Filme «Blutige Seide» (1964, Regie: Bava) und «Heisse Spur Kairo~London», eine Co- Produktion mit Ägypten und ltalien, und stellte diese fertig. Es folgten: «Der nächste Herr, dieselbe Dame» (Regie: Ratony), «Zieh dich aus, Puppe» (Regie: Ratony), «Radjapura - Endstation der Verdammten» (Regie: Albin), «Der Mann von Toledo* (Co-Produktion mit ltalien und Spanien), «Pudelnackt in Oberbayern» (Regie: Billian) und «Party-Fotograf» (beide für die Nora Film). Dann aber ging die Nora Pleite, und als Folge musste auch seine Top-Film den Konkurs anmelden. Das war im Jahre 1969- Danach betätigte er sich ausschliesslich als Immobilienmakler und Architekt.

     Rückblickend kann man sagen, dass sein Wegzug nach Deutschland eine Zäsur war. Seine künstlerisch-kreative Filmzeit, und damit eine wichtige Phase seines Lebens, war beendet. Er hat in München nie mehr als Kameramann für die Fotografie verantwortlich gezeichnet, sondern einzig die kaufmännischen und produktionstechnischen Seiten der Filmarbeit betreut. Die in schneller Folge produzierten Sexfilme brachten damals gutes Geld. Er hat sich aber mit seiner Arbeit, auch wenn sie in erster Linie ein «Brötli-Job» war, immer hundertprozentig identifiziert. Halbe Sachen lagen ihm nicht, und das Zahlenjonglieren fiel ihm leicht. Als kreative Arbeit, in die er wiederum seine ganze Leidenschaft hineinsteckte, empfand er hingegen seine Einsätze als Architekt.


     Ich habe gebaut, ja. Und da hat mich nicht mal einer gefragt, ob ich Architekt bin. Ich habe ein grosses Haus in München, an der Klenzestrasse 81, gekauft für sage und schreibe 300 000 Mark. Dann habe ich da alles abgerissen und ein neues Haus mit 36 Wohnungen gemacht und dann das Haus für 600 000 Mark verkauft. Und mein Compagnon, der hat gesagt: «Stilly, ich habe so schnell noch nie so viel Geld verdient.» Und das hab ich zweimal gemacht. Jetzt kann man das nicht mehr machen, weil alles ist so teuer. Damals, das war 1977, hab' ich ja unter 3000 Mark pro Quadratmeter bezahlt.

     Als du nach München kamst, hast du aber zuerst noch Filme produziert.

     Ich habe sieben Filme gemacht, aber alle ganz schnell.

     Deduschka, du hast mir nun schon viel von deiner Zeit in Russland und auch in der Schweiz erzählt. Aber über deine Filme nach 1960 weiss ich noch nicht sehr viel.

     Aber ich hab dir doch von diesen sieben Filmen erzählt.

     Nicht ausführlich.

     Also, da war folgendes. Da war der Regisseur Ratony, ein Ungar. Der hat die ersten erotischen Filme gemacht. Ich habe damals gerade ein Filmangebot gemacht, an die Frau Kubaschewski, die die Gloria führte. Und sie hat gesagt: Ja, ich möchte schon einen Film. Aber in der Art, wie sie der Ratony macht, ein bisschen erotisch. Ich habe mich mit ihm in Verbindung gesetzt und ihr darauf sofort ein Angebot gemacht für den Film «Zieh dich aus, Puppe». Das war ein sehr grosser Erfolg, weil der war tatsächlich erotisch. Das war einer von den sieben, mit dem hat's angefangen. Dann drehten wir «Pudelnackt in Oberbayern». Ja nun ... meine Filme waren alle ein bisschen erotisch. Das ist ja das, was das Publikum will.

     Damals hatte man aber mit der FSK (Freiwillige Selbstkontrolle) immer Theater. In einem Film hatte ich einen Schatten - nur den Schatten! - von einem nackten Mädchen. Aber man hat deutlich gesehen, dass sie nackt war. Und das musste ich rausschneiden, die Zensur hat das nicht durchgelassen. Einen Schatten! Ohne FSK bekam man aber keine Vorführerlaubnis.

     Du hast dich also mit denen rumgeärgert.

     Ziemlich. Für jeden Zentimeter Popo musste man kämpfen. In einem Film hatten wir eine Vergewaltigungsszene. Die hat der Ratony gedreht, aber da war er schon krank. Er war sehr krank. Die war so fad, dass ich ihm sagen musste, dass sie nicht brauchbar ist. Vergewaltigung muss immer Gewalt in sich haben. Ich hab' dann die ganze Szene nochmals gedreht. Ich habe den Schauspielern eingeprägt, dass die Szene brutaler sein und echt aussehen muss. Und das war so echt, dass ich mir gesagt habe, dass ich selber ohne weiteres Regie führen konnte. Besser als sehr viele andere.

     Hast du mit diesen Filmen, die du in Deutschland gemacht hast, gut verdient?

     Nun, ha! Wir haben immerhin davon zehn Jahre gelebt. Ich habe vierzigjahre im Film gearbeitet und vierzigjahre sehr gut verdient. - Ich habe nachgedacht: Ich bin mit meinem Leben - toi, toi, toi - sehr zufrieden. Und alle Kinder und Kindeskinder sind auf dem guten Wege. Und wenn mir jemand sagt: «Klar, dass du glücklich bist, du hast ja alles», dann antworte ich immer: «Von nichts kommt nichts.»

     Und wenn du nochmals wählen könntest? Würdest du irgend etwas in deinem Leben anders machen?

     Nein. Gar nichts.

     Im Herbst 92 konnte Deduschka nicht mehr zurück nach München. Sein gesundheitlicher Zustand - er war nun vollständig rollstuhlabhängig - liess dies nicht mehr zu. Er wurde ins Chronisch-Krankenheim Baden eingewiesen. Beschwert hat er sich nie über den stumpfsinnigen Tagesablauf und die öde Enge des Gebäudes. Nur einmal hat er, der Weitgereiste und Weltgewandte, mir gesagt: «Weisst du, hier sind die Wände so nahe...»

     November und Dezember weilte ich im Ausland. Als ich Anfang 1993 zurückkam, sprach er praktisch nicht mehr. Seine Beine warm mit offenen Schwären übersät, die aufgrund seiner Diabetes nicht mehr zuheilten, und er bekam hohe Dosen Morphium. Er klagte nie, interessierte sich aber in seinen lichten Momenten wie immer für die Familie, schäkerte mit den Krankenschwestern und machte mir Komplimente über die Frisur, einen hübschen Pullover oder meine Beine. Übers Sterben haben wir nie geredet, obwohl klar war, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. «Mir geht's gut. Nächste Wochefahre ich nach München, ich bin ja praktisch gesund», sagte er immer, Optimist bis zu seinem letzten Lebenstag. Am 18. Februar 1993, kurz vor seinem 89- Geburtstag, starb er.

     Auf seinen Wunsch wurde er kremiert. Und damit begann ein peinliches Trauerstück: Der verantwortliche russisch-orthodoxe Pope weigerte sich, eine Abdankung durchzuführen. Die Familie klopfte daraufhin, ziemlich ratlos, bei der griechisch-orthodoxen Kirche an. Aber auch diese wollte mit dem eingeäscherten Leichnam nichts zu tun haben, da ja die wertvolle Seele quasi mitverbrannt sei. Der zuständige Pope erklärte sich allerhöchstens dazu bereit, das Grab zu segnen, eine Zeremonie oder auch Musik könne er unter diesen Umständen nicht billigen. Die (reformierten) Schweizer Familienangehörigen waren dem Verzweifeln nahe. Wie sollte man unter solchen Umständen zu einem einigermassen anständigen Begräbnis kommen? Am Ende stellte sich freundlicherweise der katholische Pater in Ennetbaden zur Verfügung, die Abdankung in ordentlichem Rahmen durchzuführen.




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